- Im Gespräch
«Wir dachten,wir können nur für drei Tage bleiben»
Am 1. April 1975 wurde das Areal des Atomkraftwerks Kaiseraugst besetzt. Sie waren damals vorne mit dabei. Wie schauen Sie heute darauf zurück?
Ich bin stolz. Mit der Besetzung haben wir eine grosse Bewegung ausgelöst und viel erreicht. Dass das Atomkraftwerk in Kaiseraugst nicht gebaut werden konnte, war die Wende in der Schweizer Energiepolitik. Hätten wir das nicht gestoppt, hätten wir heute noch viel mehr Atomkraftwerke in der Schweiz. Ursprünglich sollten schweizweit elf Atomreaktoren gebaut werden, so waren es immerhin nur fünf.
Wie war der Widerstand organisiert?
Wir hatten in jeder Gemeinde in der Umgebung eine Ortsgruppe. Von dort aus informierten wir die Bevölkerung, verteilten Flugblätter, zeigten Filme oder organisierten Vorträge. Am Ende war es viel Basisarbeit. So waren wir dann auch bereit – nachdem wir mit allen legalen Widerstandsformen nicht weitergekommen sind – das Areal zu besetzen.
Wie lief dann die Besetzung ab?
Zuerst einmal machten wir im Dezember 1973 eine Probebesetzung. Es war zwar kalt und nicht sehr angenehm, im Winter auf einem Feld im Matsch zu hocken, aber die Bevölkerung unterstützte uns. Auch die Medien kamen und berichteten. Da haben wir gemerkt, dass es funktionieren könnte. Wir wussten aber noch nicht, wann die Bauarbeiten beginnen sollten. Also begannen wir, das Areal genau zu beobachten und abzuwarten, bis der Aushub beginnt. Ein paar Mal hatten wir da auch einen Fehlalarm, als sie nur eine Bodenprobe machten und wir dachten, es ginge los. Als ich dann sah, wie die Bagger auffuhren und die erste Infrastruktur gebaut wurde, ging ich hin und sagte, ich bräuchte für ein Projekt etwas Aushub, ob ich hier vielleicht welchen bekommen könnte. Der Mitarbeiter meinte, sie hätten mehr als genug davon, sie hätten hier gerade mit dem Aushub begonnen. Also begannen wir zu organisieren. Als Termin wählten wir den Dienstag nach Ostern, damit wir über die freien Tage mobilisieren konnten. Wir hängten in der ganzen Region Plakate auf und schrieben den Betreibern des Atomkraftwerks.
Sie haben die Betreiber zuvor informiert?
Ja, das war uns wichtig. Wir verstanden uns als gewaltfreien Widerstand und dazu gehört auch Transparenz über die eigenen Vorhaben. Eine Woche zuvor wussten sie, dass wir auf das Gelände kommen werden.
Und die Betreiber liessen es dann einfach zu?
Es war auf jeden Fall nichts eingezäunt oder sonst abgesperrt. Vermutlich hatten sie die Dynamik einfach unterschätzt. Für uns war schliesslich auch nicht klar, dass das so gross werden könnte. Wir haben uns vorher gesagt: Wenn zu Beginn 50 Leute kommen, dann bleiben wir fürs Erste. Am Dienstag um 6 Uhr morgens waren wir dann über 60, also blieben wir. Manche waren auch schon bei den Bauplatzbesetzungen von Marckolsheim in Frankreich oder Wyhl in Süddeutschland dabei. Dort wurden die Besetzungen bereits nach wenigen Tagen geräumt, also gingen wir davon aus, nur für etwa drei Tage bleiben zu können. Am ersten Wochenende kamen dann 16 000 Menschen nach Kaiseraugst, und wir blieben elf Wochen vor Ort.
Wie konnte die Bewegung so gross werden?
Die Pläne für mehr Atomkraftwerke waren in weiten Teilen der lokalen Bevölkerung unbeliebt. So entstand eine Bewegung, die sehr durchmischt war. Das machte es schwieriger, uns als einen radikalen Haufen abzutun und half sicher auch, dass die Besetzung nicht geräumt wurde. Eine Grossmutter von einem Platz zu tragen ist halt etwas anderes als einen jungen Aktivisten. Wir hatten auch von den Bauern aus der Region viel Unterstützung. Sie brachten uns Baumaterial und Essen. Es hatte immer von allem genug, wir konnten schon früh ein Rundhaus bauen und hielten dann am Morgen jeweils eine Sitzung ab, bei der wir uns besprachen.
Worüber wurde diskutiert?
Über alle möglichen grossen und kleinen Fragen. Wir wollten das Gelände ja erst räumen, wenn der Bundesrat mit uns verhandelt. Doch was für Bedingungen mussten sonst noch erfüllt werden? Gehen wir zurück, falls die Verhandlungen scheitern? Solche strategischen Fragen haben wir regelmässig und ausgiebig auch in der Vollversammlung diskutiert.
In einem Fernsehbeitrag sieht man auch eine Diskussion zwischen dem späteren Basler Nationalrat Hansjürg Weder (LdU) und einem Besetzer.
Diese Diskussion war aber eigentlich nicht so dramatisch. Die Leute aus dem Parlament durften sich halt nichts zuschulden kommen lassen und wollten vor allem auf den normalen Rechtsweg setzen. Wir spöttelten manchmal etwas über die Krawattenträger. Aber sie waren auch wichtig, um unsere Anliegen sichtbar zu machen. Also fuhren wir eine «Zwei-Beine-Strategie». Sie konnten ihre reine Weste behalten und wir waren froh um unsere dreckige Weste. Das gab dann doch ein ziemlich gutes Tandem.
Nach elf Wochen einigten Sie sich mit dem Bundesrat auf Verhandlungen. Wie kann man sich das vorstellen?
Wir hatten drei Bedingungen: Baustopp während der Verhandlungen, der Bundesrat muss uns empfangen und das Areal darf nicht eingezäunt werden. Als diese Bedingungen erfüllt waren, stimmte die Vollversammlung dann für ein Ende der Besetzung. Am 11. Juni haben wir dann alles tiptop aufgeräumt. Dann fuhr der Aargauer Regierungsrat Louis Lang (SP) in seiner Staatskarosse vor und hat das Gelände abgenommen.
Danach haben Sie sich in Bern mit dem Bundesrat getroffen?
Genau, der Bundesrat Willi Ritschard hat die Verhandlungen geleitet. Er hat sich alle Mühe gegeben. Es waren immer drei Bundesräte und alle Chefbeamt:innen und Zuständigen an den Verhandlungen. Wir waren zu zwölft. Dann wurden wir im grossen Sitzungszimmer empfangen. Das ging relativ fair über die Bühne. Unsere Verhandlungsdelegation konnte sich gut einbringen. Ich hatte das Gefühl, dass die in Bern doch gemerkt haben, dass wir nicht einfach nur ein Sauhaufen sind, der etwas Blödes macht. Willi Richard sagte zwar immer, sie hätten die Bewilligung und müssten weiterbauen. Aber wir hatten dann stets noch eine Frage, die nächste und dann noch einmal eine. So ist das immer mehr versandet und verhockt. Bis 1988 Christoph Blocher sagte, in der Region Basel bringen wir das AKW nie hin. Er tat das wohl, weil er Angst hatte, dass Gösgen und Leibstadt nie gebaut würden. Blochers Vorschlag ging dann durch und Kaiseraugst wurde nicht gebaut.
Wie war das für Sie, als plötzlich ein Bürgerlicher ihre Anliegen übernahm?
Ich war zu Beginn sehr überrascht. So ein Vorschlag, gerade von Blocher. War das eine Falle? Aber alle aus dem Parlament haben uns zugesichert, dass es wirklich das Ende bedeuten würde. Wir fanden dann, in der Vollversammlung, wir glauben denen jetzt und schwenken wieder auf einen legalen Weg. Ich war eigentlich schon eher froh. Nach elf Wochen Besetzung waren wir langsam durch.
Wenn ich mir die Bilder von damals anschaue, fällt mir auf, dass vor allem Männer im Vordergrund gestanden sind. Täuscht dieser Eindruck?
Nein, er täuscht leider nicht. Das war tatsächlich so. Ich habe mir im Zuge des Jubiläums noch einmal vieles angeschaut und da ist mir aufgefallen, dass wir in unserer Verhandlungsdelegation mit Annelise Kienle gerade einmal eine Frau dabei hatten. Auch auf der Gegenseite sassen drei männliche Bundesräte. Heute ist die Umweltbewegung ja viel weiblicher geworden. Ich bin auch einmal an einer Klimademonstration mitgelaufen, und es war deutlich diverser als noch zu unserer Zeit. Auch bei der Autobahnabstimmung waren es die Frauen, die das Nein zustande gebracht haben.
Haben Sie für Ihren Aktivismus auch Repression erlebt?
Ich hatte eine über 100 Seiten dicke Fiche. Es war also schon nicht so, als ob man mir überall wohlgesinnt war. Auch nach der Sprengung des Informationszentrums wurde ich von der Polizei aus dem Bett geholt.
Das war 1979, als nach der äusserst knapp verlorenen Abstimmung über die Atomschutzinitiative ein Informationspavillon in Kaiseraugst gesprengt wurde.
Ich wurde in der Nacht von der Polizei geweckt und zum Areal gebracht. Ich war Baumeister und kenne mich deshalb mit Sprengungen aus. So war ich auch erster Tatverdächtiger. Ich konnte vor Ort allerdings nur sagen, dass es eine äusserst saubere Sprengung war. Wer es war, weiss ich bis heute nicht. Mich würde es aber sehr interessieren, wer es gemacht hat.
Wie fanden Sie diese Sprengung damals?
Für uns war es ein «Seich». Wir wussten, das schieben sie uns in die Schuhe. Wir haben uns gewehrt und gesagt, wir machen solche Sachen nicht. Wir wollen wissen, wer es war. Leider kam es nie heraus.
Obwohl das AKW in Kaiseraugst verhindert werden konnte, Leibstadt und Gösgen wurden trotzdem gebaut.
Die sind quasi im Windschatten von Kaiseraugst entstanden. Wir haben dort den Widerstand nicht gleich hinbekommen. In Gösgen hat es zwar noch die Schlacht von Gösgen gegeben, aber die Betreiber haben auch dazugelernt und gesagt, wir zäunen ein, wir haben Polizei, wir wissen jetzt wie. Da konnten wir nicht einfach hineinspazieren.
In der Schweiz wird gerade wieder über neue AKW diskutiert. Der Bundesrat will einen Gegenvorschlag zur «Blackout stoppen»-Initiative, die den Bau von AKW wieder ermöglichen will.
Es wird zwar diskutiert, aber ich glaube, ein neues AKW wird es nicht mehr geben. Keine Versicherung will das Risiko tragen, kein Bauherr den Bau übernehmen. Die Axpo hat schon bekanntgegeben, dass sie das AKW in Beznau 2033 vom Netz nehmen will. Leibstadt läuft zwar noch, aber es ist eine sterbende Industrie.
Falls aber doch noch ein AKW kommt, sind Sie bei der nächsten Besetzung wieder dabei?
Als Organisator braucht es mich sicher nicht mehr, aber Material und Essen würde ich selbstverständlich vorbeibringen.