Wir brauchen einen öko-sozialen Aufbruch

Die Demokratie traditionellen Zuschnitts steckt in einer tiefen Krise. Die ökonomischen Kräfte lassen sich immer weniger bändigen. Dies führt zu einer tiefgreifenden Bedrohung aller menschlichen Lebensgrundlagen. Unter solchen Bedingungen Demokratie einzufordern bedeutet, sie ökologisch, sozial und global zu begreifen. Hier einige Gedanken im Blick auf den kommenden «Reclaim Democracy»- Kongress in Zürich.

 

von Kurt Seifert

 

An vielen Orten dieser Welt gehen Frauen und Männer, Jugendliche und sogar Kinder gegen soziale Ungerechtigkeit, korrupte Machthaber und die Zerstörung der Natur auf die Strasse, besetzen Plätze, marschieren vor Konzernzentralen auf oder schützen bedrohte Landschaften durch den Einsatz ihrer Körper. Eine Protestwelle verbreitet sich über den Globus, die seit den Zeiten rund um 1968 kaum mehr gesehen worden ist. Allerdings unterscheiden sich die heutigen Aktionen von jenen vor rund einem halben Jahrhundert: Damals erschien es, als würden alle diese Aufbrüche unter einem gemeinsamen Vorzeichen stehen: gegen den Krieg – vor allem jenen der Vereinigten Staaten in Vietnam – und gegen das Kapital. Diese antikapitalistische Positionierung liess sich aus unterschiedlichen Gründen nicht durchhalten und so zersplitterte die Bewegung und verlor ihre transformierende Kraft.

In der Folge trat die neoliberale Idee seit den 1970er-Jahren ihren Siegeszug an, absorbierte dabei einen Teil des widerständigen Potenzials in der Gesellschaft und gab dem Kapitalismus ein moderneres Gewand. Doch mit dieser Erneuerung der Kapitalherrschaft wachsen zugleich deren soziale und ökologische Kosten: Die Ausbeutung von Mensch und Natur nimmt neue und intensivere Formen als zuvor an. Dies führt zur viel zitierten wachsenden Schere zwischen Reich und Arm sowie zu ökologischen Krisen, die im Begriff des «Klimawandels» nur annäherungsweise zusammengefasst werden können.

 

Zwei Pole bestimmen das Feld

 

Zahllose Menschen lassen sich die herrschenden Zustände nicht mehr gefallen und widersprechen jenen, die davon profitieren und sie rechtfertigen. Viele reagieren mit Wut und Zorn, andere tragen vor allem den Wunsch nach einem besseren Leben in sich. Heute manifestiert sich die Bewegung, anders als 1968, an zwei ganz unterschiedlichen Polen: einem «braunen» und einem «grünen». «Braun» nenne ich die regressive Ecke des gesellschaftlich-politischen Feldes, «grün» jene Kraft in Gesellschaft und Politik, welche das gute Leben für alle im Auge hat. Am «brauen» Pol sammeln sich diejenigen, die meinen, ihre Not rühre von den «Fremden» her: von Menschen anderer Hautfarbe, die als Arbeitskräfte oder Asylsuchende zu uns kommen, und von den «fremden Herren», die in Brüssel oder sonst wo sitzen. Kritik am Kapital kommt bei ihnen nicht auf, höchstens an den «fremden» Ausbeutern, die unser Land aussaugen würden.

Die nationalistischen, reaktionären und teilweise auch offen faschistischen Strömungen zeigen sich überall auf der Welt – sei es in Thüringen oder in Trumps Amerika, in Italien oder in Indien. Sie setzen auf das «Volk», und dies bis jetzt mit einigem Erfolg. Angesichts sozialer und ökologischer Krisen wollen diese Kräfte die Nation wieder stark machen und fördern den Glauben an die eigene Ethnie, die besser sein soll als alle anderen. Selbstverständlich übersehen sie dabei, dass sich die Herausforderungen unserer Zeit – Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen – gar nicht mehr im nationalen Rahmen alleine bewältigen lassen. Doch in Zeiten wachsender Unsicherheit scheinen Heimat und Nation Rückzugsorte zu sein, welche angstmindernd wirken sollen.

 

Für die Transformation einstehen

 

Der «grüne» Pol hingegen wird von denen gebildet, die keinen Sinn mehr darin sehen, Sündenböcke für die Probleme unserer Zeit – eben die sozialen und ökologischen Krisen – zu suchen. Sie wollen diesen Fragen vielmehr auf den Grund gehen, den sie in der sozialen Spaltung und in der fortschreitenden Zerstörung der Grundlagen jeglichen Lebens erkennen. Selbstverständlich gibt es dafür auch Verantwortliche, die benannt werden müssen – doch gerade die werden durch das völkische Raster der Rechten nicht dingfest gemacht.

Am «grünen» Pol sammeln sich jene, die mehr oder weniger bewusst und explizit für eine sozial-ökologische Transformation der Gesellschaft eintreten und die den Kräften des gegnerischen Pols entgegentreten wollen, denn sie befürchten zu Recht, dass diese alle schon erreichten emanzipatorischen Fortschritte – beispielsweise im Verhältnis zwischen den Geschlechtern – wieder rückgängig machen und noch zu erringende Schritte der Emanzipation verhindern wollen. Die Sammlung wird allerdings dadurch erschwert, dass sozial-ökologische Lösungen weniger leicht zu finden sind als die scheinbar auf der Hand liegenden Rezepte der Rechten. Das ist der Vorteil des vermeintlich «Populären» einer rechten Politik: Sie kennt angeblich einfache Antworten auf schwierige Fragen. Der ihr innewohnende Autoritarismus macht es dann auch möglich, dass Menschen dieser Politik folgen, die in unsicheren Zeiten die Führung durch einen «starken» Mann, gelegentlich auch durch eine «starke» Frau wie Maggie Thatcher, suchen. Solchen Populismus mag es auch auf der Linken gehen, doch er wirkt immer ein wenig wie aus der Zeit gefallen.

 

Krise der Solidarität überwinden

 

Auf ein anderes Problem des progressiven Pols machen Mattea Meyer und Cédric Wermuth in ihren kürzlich veröffentlichten Bewerbungsunterlagen zur Kandidatur für das Co-Präsidium der SP Schweiz aufmerksam. Sie weisen darauf hin, dass wir nach 30 Jahren neoliberaler Dominanz heute eine «Krise der Solidarität» erleben. Ich zitiere ausführlich: «Oben herrscht Machtkonzentration in den grossen Konzernzentralen. Sie eignen sich durch Privatisierung unser Volksvermögen an und machen mit lebensnotwendigen Gütern wie Wasser, Strom, Wohnen, der Altersvorsorge und unserer Gesundheit gigantische Gewinne. Sie zerstören aus Profitgier den Planeten. Und unten tobt der Konkurrenzkampf bei denen, die von Lohn und Rente leben. Dort setzen die Rechten auf Ellenbogen-Mentalität, alle gegen alle, auf eine entsolidarisierte Gesellschaft.»

Die von der Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegung des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelten Strukturen der Solidarität wie Bildungs- und Sportvereine oder Volkshäuser und Ferienkolonien haben die Ära des Neoliberalismus nur selten überlebt; andere, wie die Gewerkschaften, können nach eine Phase des Niedergangs wieder eine gewisse Anziehungskraft entwickeln. Doch heute entstehen neue, oft sehr fragile Formen solidarischen Zusammenleben, wie sie sich zum Beispiel in der Frauen- und der Klimastreikbewegung zeigen. Diese zarten Pflänzchen benötigen Hege und Pflege – denn ohne solche Zusammenschlüsse, in denen Vertrauen und Verbindlichkeit wachsen können, wird es wohl kaum gelingen, den lebensfreundlichen Pol in der Gesellschaft genügend stark zu machen.

 

Das gesellschaftliche Gefüge verändert sich

 

Eine wichtige Funktion des Denknetz-Kongresses kann gerade darin bestehen, Netze der Solidarität zu knüpfen und Menschen miteinander zu verbinden, die sehr unterschiedliche Anliegen und Vorstellungen von einer anderen Gesellschaft haben mögen. Dem ersten Reclaim Democracy-Kongress Anfang Februar 2017 in Basel ist dies nicht schlecht gelungen. Deutlich mehr als die zunächst erwartete Zahl von Teilnehmenden kam zusammen: Über 1800 Personen nahmen an den Veranstaltungen in der Basler Universität teil. Ein mobilisierender Faktor war wohl auch die kurz zuvor erfolgte Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten, die viele erschreckte und fragen liess, was zu tun sei, um den Nationalisten und Rechtspopulisten wirksam entgegentreten zu können. Nach dem Treffen in Basel erklärte Tamara Funiciello, die damalige Präsidentin der Juso Schweiz, gegenüber der WOZ, sie habe den Kongress «inspirierend» gefunden. Und die ‹Wochenzeitung› schrieb weiter: «Eine rege Vernetzung unter den TeilnehmerInnen war feststellbar. Und aus manch einem Gespräch liess sich sogar ein Hauch von Aufbruchstimmung heraushören. […] Als Diskussionsplattform hielt dieser Kongress seine Versprechen. Und er war dringend nötig.»

Damals war noch nicht abzusehen, welche Veränderungen im gesellschaftlich-politischen Gefüge sich nur zwei Jahre später ergeben würden: Die Klimastreik-Jugend und der Frauenstreik haben die Verhältnisse aufgemischt und der Gewinn der Grünen bei den nationalen Wahlen im Herbst 2019 ist ein Indiz für einen Wandel, zumindest im Bewusstsein zahlreicher Menschen. Ähnliche Entwicklungen zeichnen sich in vielen Ländern dieser Erde ab. Es werde dabei deutlich, dass die «alte Ordnung zerbricht», haben die Journalistin Elsa Koester und der Politologe Michael Jäger kürzlich in der linken deutschen Wochenzeitung ‹der Freitag› (Nr. 7, 13. Februar 2020) geschrieben.

Am Beispiel Deutschlands lässt sich im Übrigen sehr schön zeigen, wie die weiter oben skizzierten gesellschaftlichen Pole auf die übrige politische Landschaft ausstrahlen. Nach der durch die AfD-Inszenierung verunglückten Thüringer Ministerpräsidentenwahl ist jetzt in der CDU ein Richtungskampf ausgebrochen. Der Merkel-Flügel wollte auf eine schwarz-grüne Koalition hinarbeiten, um den Kapitalismus zu modernisieren. Er wird nun aber durch Teile der CDU in den vormals «neuen» Bundesländern ausgebremst, die neue Bündnisse unter stillschweigendem oder offen ausgesprochenem Einschluss der AfD anstreben. Ihr Ziel ist es, den alten, «fossilistischen» Kapitalismus noch irgendwie zu retten. So ordnen sich die politischen Kräfte, die einstmals von den sogenannten Volksparteien geprägt wurden, auf eine andere als die bislang gewohnte Weise. Um zu verhindern, dass die Rückwärtsgewandten mit ihren veralteten Modellen in Wirtschaft und Gesellschaft künftig wieder das Feld bestimmen werden, ist jetzt ein öko-sozialer Aufbruch erforderlich. Der Zürcher Kongress wird hoffentlich einen Beitrag dazu leisten.

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