«Wir brauchen einen neuen, faireren Verteilschlüssel»
Am 27. September stimmen wir über die Änderung des Zusatzleistungsgesetzes ab. Weshalb ein Ja längst nicht nur den Direktbetroffenen nützt, erklären die Sozialvorsteher von Zürich und Winterthur, Raphael Golta und Nicolas Galladé, im Gespräch mit Nicole Soland.
Die Soziallasten der Gemeinden steigen stetig, und die Zusatzleistungen zur AHV/IV machen den grössten Anteil daran aus. Das ist nicht erst seit gestern so: Weshalb haben die Gemeinden nicht längst reagiert?
Raphael Golta: Die Finanzierung von Sozialleistungen durch die Gemeinden ist tatsächlich ein Dauerbrenner. Doch beschäftigte sie lange Zeit vor allem die beiden grössten Städte Zürich und Winterthur und stand darum beim Kanton und den anderen Gemeinden nicht zuoberst auf der Prioritätenliste. Doch spätestens seit den Nuller-Jahren begannen auch Gemeinden in der Agglomeration, von Zürich aus gesehen insbesondere jene im Limmattal und im Glatttal, unter einer stetigen Zunahme der Soziallasten zu leiden. Sie mussten ihren ärmeren, älteren EinwohnerInnen vermehrt mit Zusatzleistungen unter die Arme greifen. In dem Zug geriet dann auch das Finanzierungssystem in den letzten fünfzehn Jahren mehr in den Fokus.
Was ist denn nicht gut am System?
R.G.: Die Finanzierung der Soziallasten bringt gewisse Gemeinden an ihre Grenzen; sie müssen einen sehr grossen Teil ihres Budgets dafür verwenden und haben fast keinen Spielraum mehr, um sich ihren anderen Aufgaben zu widmen. Weil dies zunehmend auch bürgerliche Gemeinden auf dem Land trifft, ist in jüngster Zeit der Druck gestiegen, sich des Problems anzunehmen. Denn wenn man einfach so weitermacht wie bisher, muss der Kanton so oder so irgendwann unterstützend eingreifen. Von alleine wird die Lage jener Gemeinden, die schon heute unter einer toxischen Mischung von hohem Steuerfuss, wenig Mitteln und wachsenden sozialen Herausforderungen leiden, jedenfalls nicht besser.
Nicolas Galladé: Zudem sehen die Raumordnungskonzepte des Kantons vor, dass künftig mehr urbane Landschaften entstehen werden, die gemäss des Prinzips der inneren Verdichtung auch mehr Menschen aufnehmen werden als heute. Und wenn in einer Stadt die Bevölkerungszahl zunimmt, dann steigen auch die Ausgaben für Bildung, Gesundheit und Soziales: Einerseits eben, weil mehr Köpfe mehr kosten, und andererseits, weil auch die Kosten pro Kopf stetig zunehmen, und zwar proportional stärker bei grösseren Gemeinden und solchen mit Zentrumsfunktion. Natürlich wäre es rückblickend gut gewesen, wenn man das Ungleichgewicht, das so bei den Soziallasten entsteht, schon früher angegangen wäre. Doch als es noch ausschliesslich ein Problem der Städte Zürich und Winterthur war, wurden entsprechende Bemühungen von rechter Seite mit der Behauptung abgetan, die linken Städte hätten es nicht im Griff, sprich, sie seien selber schuld.
Was sollen wir dagegen tun?
N.G.: Wir haben es mit einem Missstand auf Gesetzesebene zu tun: Der Kostenanteil, den die Gemeinden im Kanton Zürich übernehmen müssen, ist einer der höchsten, und obendrein gibt es keinen Ausgleich zwischen Gemeinden mit hohen und solchen mit niedrigen Soziallasten. Von 2000 bis 2015 hat die Belastung der Gemeinden massiv zugelegt, so stieg der Anteil der Sozialkosten am Gesamtbudget um 56 Prozent. Auch das Ungleichgewicht zwischen den Gemeinden wurde im selben Zeitraum noch grösser: Der Unterschied der Belastung zwischen der am stärksten und der am schwächsten belasteten Gemeinden nahm um 100 Prozent zu. Das Schwierige daran ist, dass die Gemeinden diese Kosten nicht beeinflussen können – aber die Rechnung landet bei ihnen. Der Kanton Zürich steht diesbezüglich besonders schlecht da, denn wir haben zwar einen Ressourcenausgleich zwischen den Gemeinden, aber keinen Soziallastenausgleich, und als Beitrag an die Zusatzleistungen überweist der Kanton Zürich im Vergleich mit den anderen Kantonen am zweitwenigsten.
Aber dank dem Finanzausgleich kommen die ärmeren Gemeinden doch auch an Geld vom Kanton: Reicht das nicht aus?
R.G.: Tatsächlich wird über den Ressourcenausgleich einiges an Geld umverteilt. Nur hilft das den Gemeinden bei den Zusatzleistungen leider nichts, denn hier gehen die Kosten so weit auseinander, dass das Geld je nach Problemlage trotz Finanzausgleich einfach nicht reicht.
N.G.: Die Ausgangslage ist von Gemeinde zu Gemeinde verschieden: Einige haben Seesicht, andere nicht. Einige haben viele ältere EinwohnerInnen, andere nicht, und so weiter. Das ist überhaupt kein Problem, es braucht alle für ein gutes Zusammenleben in unserem Kanton, und es kann ja keine etwas dafür, dass sie einen See hat – oder eben nicht. Aber während der Ressourcenausgleich so gut funktioniert, dass die Steuerkraft der einzelnen Gemeinden bis auf plusminus zehn Prozent ausgeglichen wird, gibt es bei den Soziallasten keinen vergleichbaren Mechanismus. Deshalb hat die Dietiker SP-Kantonsrätin Rosmarie Joss mit ihrer parlamentarischen Initiative vom Juni 2014 verlangt, dass ein neues Instrument ins Finanzausgleichsgesetz aufgenommen werden soll, nämlich ein Sozialllastenausgleich. Die Beratung zeigte aber auf, dass eine Anpassung nicht über den Finanzausgleich, sondern in den Spezialgesetzen erfolgen sollte. Die Kommission für Staat und Gemeinden hat sich schliesslich auf den Kompromiss geeinigt, über den wir nun abstimmen.
Worin besteht der Kompromiss?
R. G.: Wird die Vorlage am 27. September angenommen, zahlt der Kanton den Gemeinden 70 Prozent des anrechenbaren Teils der Zusatzleistungen, die sie auszahlen müssen. Anrechenbar sind höchstens 125 Prozent der durchschnittlichen Bruttokosten pro Kopf der Gesamtbevölkerung. Damit werden die Städte Zürich und Winterthur zwar unterdurchschnittlich entlastet, da die Kosten bei uns deutlich höher sind als im kantonalen Durchschnitt. Doch es handelt sich ja auch um einen Kompromiss …
N. G.: … und wir sollten auch die politische Komponente nicht vergessen.
Die da wäre?
N.G.: Die Ergänzungsleistungen dienen der sozialen Sicherheit, sie gehören zum letzten Netz der sozialen Absicherung. Wenn dieses Netz so gebaut ist, dass es möglichst alle auffangen kann, dann profitiert auch die Gesamtgesellschaft davon. Fürs Zusammenleben wie auch für die Wirtschaft ist es besser, wenn möglichst wenige Menschen total abgehängt werden. Es kann nicht sein, dass gewisse Gemeinden alleingelassen werden, denn das mindert die Zukunftsfähigkeit des ganzen Kantons.
R. G.: Die Solidarität zwischen den Gemeinden ist extrem wichtig, auch aus sozialpolitischen Gründen: Hat eine finanzschwache Gemeinde beispielsweise einen oder zwei schwierige, teure Einzelfälle und kommt deswegen an den Anschlag, dann ist die Gefahr gross, dass die Forderung von rechts kommt, man müsse halt die Leistungen kürzen. Das kann nicht der Ausweg sein: Wir dürfen solche Gemeinden nicht einfach mitsamt ihrem schwierigen Fall sitzen lassen, und strukturelle Probleme auf die LeistungsbezügerInnen abzuschieben, ist keine Lösung. Denn das würde bedeuten, dass man die Schwächsten im System für etwas bestraft, wofür sie nichts können.
N. G.: Uns als Land und auch als Kanton geht es gut genug, um die Soziallasten gemeinsam stemmen zu können, wir müssen es nur machen. Einzelne Gemeinden allein zu lassen und sich als Kanton aus der Verantwortung zu stehlen, wäre definitiv der falsche Weg. Es könnte dazu führen, dass die Unterstützung für ältere Menschen, Asylsuchende oder Flüchtlinge in ärmeren Gemeinden so stark zu Buche schlagen würde, dass sie die Sanierung ihres Schwimmbads nicht mehr finanzieren könnten oder den Steuerfuss erhöhen müssten. Einige Gemeinden würden vielleicht keine Alterswohnungen mehr bewilligen, um keine Menschen anzuziehen respektive in der Gemeinde zu behalten, die Zusatzleistungen benötigen und damit Kosten verursachen. Spielt stattdessen die Solidarität unter den Gemeinden, dann finden sich Lösungen für die Menschen, ohne dass Gemeinden verarmen.
Warum sind denn einzelne Gemeinden derart am Anschlag?
R. G.: Die Gemeinden sind im Kanton Zürich traditionell für die Finanzierung eines Grossteils der sozialen Leistungen für ihre BewohnerInnen zuständig. So auch für die Sozialhilfe oder die Zusatzleistungen zu AHV und IV. Ein entscheidender Faktor für die wachsenden Sozialkosten und deren ungleicher werdende Verteilung in den letzten Jahren ist die alternde Bevölkerung: Was gesamtgesellschaftlich ja durchaus wünschenswert ist, hat für einzelne Gemeinden ein grosses Preisschild: Einerseits steigen die Kosten der Zusatzleistungen für die sozial schwächeren SeniorInnen, andererseits steigen generell die Pflegekosten. Wer früher in einer typischen Mittelstandswohnung lebte und Steuern zahlte, ist heute möglicherweise auf ein Bett im durch die Gemeinde finanzierten Pflegeheim und auf Zusatzleistungen angewiesen. Wenn all diese Bedürfnisse in einer Gemeinde gehäuft auftreten, so hat die zuständige Gemeinde ein Finanzproblem, für das sie nichts kann. Entsprechend darf es nicht sein, dass man die Gemeinden mit den Belastungen, die das mit sich bringt, alleinlässt.
N.G.: In anderen Kantonen, vorab jenen in der Romandie, trägt der Kanton schon seit längerem einen höheren Anteil an den Kosten für Zusatzleistungen. Umgekehrt zeigt ein Blick in die Statistik, dass diese Kosten in der Stadt Winterthur seit 1990 konstant zunehmen. In den Nuller-Jahren wurde zwar der Finanzausgleich überarbeitet, und mit dem Ressourcen- und Finanzausgleich REFA wurden die Folgen der unterschiedlichen Steuerfüsse der Gemeinden etwas ausgeglichen. Dieser Ressourcenausgleich funktioniert zwar gut, doch einige Gemeinden haben eben zusätzlich spezifische Kosten zu tragen, und diese berücksichtigt der Ressourcenausgleich nicht . Kurz: Es besteht Handlungsbedarf, und die Vorlage vom 27. September weist in die richtige Richtung.
Heisst das, dass auch bei einem Ja noch nicht alles gut ist?
N.G.: Es ist noch nicht das Ende der Fahnenstange, das stimmt. In Winterthur müssen wir fast drei Viertel des Budgets für Bildung, Gesundheit und Soziales aufwenden.
R.G.: In der Stadt Zürich geben wir zwei von drei Milliarden Franken für Bildung und Soziales aus. Die Entwicklung dieser Aufgaben und Kosten, sowie deren Verteilung, müssen wir weiter im Auge behalten.
Die Ergänzungsleistungen sind beim Bund geregelt, der Kanton hat selber keinen grossen Spielraum – und trotzdem soll er den Gemeinden mehr Geld geben?
R.G.: Die Kantone sind gegenüber dem Bund durchaus in einer ähnlichen Situation wie die Gemeinden gegenüber dem Kanton. Es gibt gute Gründe, weshalb der Bund einen höheren Anteil übernehmen sollte. Nur leider hilft diese Erkenntnis allein den Gemeinden auch nicht weiter.
N.G.: Nichtsdestotrotz ist es zudem so, dass in der Mehrheit der Kantone die Gemeinden keine Kosten für die Zusatzleistungen tragen und der Kanton den nach dem Bundesbeitrag verbleibenden Anteil voll übernimmt.
R.G.: Im Kanton Zürich hingegen übernimmt er nur rund einen Viertel: Zirka 50 Prozent zahlen die Gemeinden, 24 Prozent der Kanton und 26 Prozent der Bund.
Kommen wir zum Schluss noch auf das Killerargument der GegnerInnen zu sprechen: «Das kann der Kanton sich nicht leisten»…
R.G. Bis Anfang Jahr hiess es, «die Gemeinden haben das gar nicht nötig, ihnen geht es doch gut». Dann kam die Corona-Pandemie, und jetzt geht es dem Kanton plötzlich ganz schlecht, und er kann sich gar nichts mehr leisten… Im Ernst: Diese Abstimmung setzt einen Schlusspunkt unter eine Diskussion, die seit sechs, sieben Jahren läuft, und grundsätzlich ist allen klar, dass wir einen neuen, faireren Verteilschlüssel brauchen.
N.G.: Genau: Wir haben es hier mit einem hausgemachten gesetzgeberischen Missstand zu tun, und diesen Fehler im System müssen wir endlich grundsätzlich beheben, und zwar unabhängig von den momentanen Wasserstandsmeldungen der Kantonsfinanzen.