«Wir brauchen eine realistischere Ökonomik»

Mascha Madörin und Christine Rudolf setzen sich aus einer feministischen Perspektive mit wirtschaftlichen Entwicklungen wie zum Beispiel der aktuellen Inflation auseinander. Weshalb wir neue wirtschafts- und sozialpolitische Konzepte brauchen, in denen Geschlechtergerechtigkeit ein zentrales Kriterium ist, erzählen sie im Gespräch mit Roxane Steiger. 

 

Der finanzielle Druck auf das Haushaltsbudget der Menschen wächst zurzeit sehr stark im Kanton Zürich. Nun hat der Kanton all seinen Angestellten einen vollen Teuerungsausgleich zugesichert. Was heisst das genau? 

 

Mascha Madörin: Der Teuerungsausgleich umfasst in diesem Fall eine Erhöhung der Löhne als Reaktion auf eine durchschnittliche Teuerung. Das ist aus gesamtwirtschaftlicher Sicht richtig. Bei den Inflationsberechnungen werden nationale Durchschnitte berechnet. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass ein Teuerungsausgleich für Menschen mit niedrigem Einkommen sehr viel weniger Geld bedeutet. Bei dieser Inflation handelt es sich vor allem um eine Teuerung der Energiepreise. Die Belastung der Haushalte mit kleineren Einkommen ist bei Energiekosten fast zweieinhalbmal so gross wie für Haushalte mit hohen Einkommen. Ich bin sehr für einen Teuerungsausgleich, doch es reicht nicht. Wir alle brauchen Energie. Die Grundversorgung muss finanziell gewährleistet werden. 

Christine Rudolf: In der gemessenen Inflationsrate ist zum Beispiel die Erhöhung des Krankenversicherungsbeitrages nächstes Jahr gar nicht enthalten. Es gibt genügend Menschen in der Schweiz, für die das kein Thema ist. Aber wir hatten schon während der Coronapandemie eine Verschärfung der Schere zwischen Arm und Reich. Weil Faktoren wie die Energie- und Gesundheitskostenkosten in der Inflationsrechnung für Haushalte mit niederen Einkommen nicht genügend berücksichtigt werden, ist die finanzielle Belastung der geringverdienenden Haushalte höher. So geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander, trotz des gut gemeinten Ausgleichs. 

M.M.: Der grosse Streitpunkt zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverband ist zudem der Ausgleich bei den Sozialversicherungen. Der Arbeitgeberverband will den Anspruch auf Prämienausgleich für niedrige Einkommen verschlechtern, während in der Schweizerische Gewerkschaftsbund verbessern möchte. 

 

 

Wie setzt sich Economiefeministe mit der Inflation auseinander? Welche Aspekte beleuchtet eine feministische Perspektive? 

 

C.R.: Eine Perspektive ist immer die Geschlechterperspektive. Diesbezüglich stellen wir uns die Frage, wie sich die Inflation auf Männer und Frauen auswirkt. Hier spielt natürlich eine Rolle, dass Frauen im Durchschnitt wesentlich weniger Einkommen zur Verfügung haben, dass sie stärker von Armut betroffen sind und weniger Zugang zu bezahlter Arbeit haben, da sie mehr unbezahlte Arbeit leisten. Der grösste Sektor unserer Wirtschaft ist die Sorge- und Versorgungsarbeit, die sich aus einem bezahlten Teil und einem unbezahlten Teil zusammensetzt. In beiden Sektoren arbeiten vorwiegend Frauen. Dieses Spezifikum wird von westlichen Industriegesellschaften für politische Entscheide nicht ausreichend berücksichtigt. 

M.M.: Die zweite Perspektive betrifft den Lebensstandard und die Grundversorgung. In Haushalten wird ein wesentlicher Teil des Lebensstandards produziert. Ich beobachte immer wieder, dass über Haushaltsökonomie geredet wird, als wäre sie ein kleiner Wirtschaftssektor. Dabei handelt es sich um einen riesigen Sektor, was die Arbeit und die Bruttowertschöpfung sowie auch die Leistungen anbelangt, viel grösser ist als Industrie- und Finanzsektor zusammengezählt. Wichtige Fragen, die kaum gestellt werden, sind: Was heisst das für die wirtschaftliche Dynamik und was wissen wir über diesen Sektor? Die ökonomische Logik dieses Sektors ist eine andere. Im Frühjahr 2020 habe ich die Pressekonferenzen des Bundes zu Covid-19 geschaut. Damals war angekündigt, dass der Bundesrat mit Vorschlägen für den Bereich der vielen personenbezogenen, haushaltsnahen Dienstleistungen kommt. Während der Pressekonferenz hat Guy Parmelin zu Alain Berset hin übergegrinst und gesagt, sie hätten diesbezüglich lange diskutiert und seien zu keinem Schluss gekommen. Es sei kompliziert. Aber die Leute brauchen diese Unterstützungsleistungen ja dringend. Wir brauchen viel mehr Wissen darüber, wie ein solches Setting in einer Krise funktioniert und was bei einem ökologischen Umbau geschieht. Haushalte werden zurzeit nur als Konsumeinheiten analysiert. 

C.R.: Ich schliesse mich an. Haushalte werden immer als letzte Reserve betrachtet. Wenn die Wirtschaft boomt und wie im Moment Fachkräftemangel herrscht, gibt es dauernd Aufforderungen, dass Frauen wieder in den Arbeitsmarkt eintreten sollen. Es wird ein bisschen etwas an den Rahmenbedingungen geändert, wie zum Beispiel bei der Kinderbetreuung. An den strukturellen Ursachen, warum Frauen in der Regel in Teilzeit arbeiten, wird aber nichts verändert. Dann kommt eine Krise wie die Coronapandemie und es werden Arbeiten in den Haushalt verlagert. Es gab zwar finanzielle Unterstützung, aber es wurde nie diskutiert, was Haushalte eigentlich brauchen, um die Pandemie zu stemmen. Hinterher hat man festgestellt, dass man mit Lockdowns sehr viele psychische Probleme und Burnouts erzeugt hat. 

 

 

In der Politik wird ja oft diskutiert, wie man die Haushalte finanziell entlasten kann. Welche Massnahmen braucht es für diese Entlastung der Haushalte?

 

M.M.: Als Economiefeministe diskutieren wir Varianten und mögliche Auswirkungen. Eine Variante ist zusätzliches Geld für Menschen mit niedrigen Einkommen. Dazu muss man eruieren, welche Haushalte Unterstützung brauchen. In der Schweiz wäre das nicht so schwierig. Die Kantone haben beispielsweise Listen der Menschen, die Prämienverbilligungen erhalten. Eine zweite Variante wäre die, eine Reduzierung des Stromverbrauchs und Verbrauchs fossiler Energie durch Preisregelungen anzustreben, insbesondere wenn wir aus ökologischer Perspektive davon ausgehen, dass wir nicht nur vorübergehend in den kommenden Wintern Strom und Energie sparen sollten. In Deutschland diskutiert man zum Beispiel darüber, dass die Preise für 80 Prozent des Stromverbrauchs niedrig gehalten werden sollen. Die dritte Variante wäre, dass man gemäss Haushaltseinkommen pro Kopf Zuschüsse macht, also wie bei den Krankenkassenprämien. Und die vierte Variante wäre das, was Südafrika bei Wasserknappheit gemacht hat: ein Gutschein für den Energiebedarf pro Kopf. Ich glaube, wir müssen neue wirtschafts- und sozialpolitische Konzepte entwickeln, in denen Geschlechtergerechtigkeit ein zentrales Kriterium ist. Wichtig ist dabei vor allem eine neue Sicht auf die Haushaltsfragen. Diese kommen auch in der Ökologiedebatte nur als Konsumfrage vor, obwohl in den Haushalten mehr als die Hälfte der bezahlten und unbezahlten Arbeit geleistet wird. 

 

 

Die Inflation in der Schweiz ist derzeit viel tiefer ist als in den Ländern, die uns umgeben. Frau Rudolf, Sie leben und arbeiten in Deutschland. Wie wird in der Eurozone mit dieser Situation umgegangen?

 

C.R.: Wir haben einen Durchschnittswert von ungefähr zehn Prozent Inflation. Das ist viel höher als in der Schweiz, wo dieser Wert um drei Prozent liegt. Allerdings ist die Situation in der Eurozone je nach Land sehr unterschiedlich. In den osteuropäischen Ländern liegt die Inflation teilweise bei zwanzig Prozent, in Deutschland ungefähr beim Durchschnitt. Dann gibt es Länder, die eher in Richtung der Schweiz tendieren. Das hat zwei Gründe. Zuerst geht es um die Höhe der Inflation. Diese steht in direktem Zusammenhang mit der Abhängigkeit von Gas und Öl. Umso höher die Abhängigkeit vom Gas zurzeit innerhalb einer Volkswirtschaft ist, umso höher die Inflation. Der zweite fundamentale Unterschied ist, dass die öffentlichen Haushalte mit ihren Beschränkungen, die sich die Europäische Union mit Maastricht- und Verschuldungskriterien auferlegt haben, sehr unterschiedlich ausgestattet sind, um ihrer Bevölkerung über diese Zeit hinweg zu helfen. Im Moment gelingt es nicht, auf EU-Ebene zu einer vernünftigen Einigung zu kommen. Eine Blockade in diesen Fragen heisst vor allem für Menschen in den osteuropäischen Ländern, dass sie von dieser Inflation und den wirtschaftlichen Verwerfungen, die dadurch ausgelöst werden, stärker betroffen sind. Wenn man den Kontinent Europa insgesamt anguckt, von dem die Schweiz auch ein Teil ist, dann werden wir weiter unruhige Zeiten haben. Denn die Antworten der öffentlichen Hand auf europäischer Ebene auf diese Krise sind bisher sehr bescheiden.

 

 

Wo müsste man denn ansetzen? 

 

M.M.: Während der Pandemie hat man von der Systemrelevanz gesprochen. Ich glaube, dass es zwei Systeme gibt: das System, das Teil kapitalistischer Akkumulation der Industrie, der Banken, des Grosshandels ist. Dieses System steht im Fokus der Regierungspolitik in Krisen. Dann gibt es einen riesigen Rest der bezahlten und unbezahlten Sorge für und direkten Versorgung von Menschen. Da wird viel geleistet und meistens wenig oder nichts verdient. In einer Zeit der Krisen müssen wir dringend über diesen Teil reden, der für das Sicherheitsgefühl der Menschen wichtig ist. Das wird von der Politik auf dem gesamten politischen Spektrum kaum gemacht. Es müssen jetzt eigenständige Debatten über diesen ganzen Bereich stattfinden. Wir müssen uns auch da­rüber streiten. Denn es gibt keine einfachen Antworten darauf, was richtig ist.  

C.R.: Economiefeministe versteht sich als Thinktank. Auf der einen Seite versuchen wir uns Raum zu verschaffen und Menschen zusammenzubringen, die mit uns gemeinsam über diese Fragen nachdenken: Was braucht es für Daten? Welche Diskussionen muss es geben? Auf der anderen Seite versuchen wir, das, was wir uns erarbeitet haben und was an Wissen schon da ist, in Form von Angeboten nach aussen zu vermitteln. Wir arbeiten ja nicht im stillen Kämmerlein, sondern wir sind ein Mitmachprojekt, das sowohl bei der Erarbeitung unserer Materialien wie bei der Präsentation interaktiv arbeitet. Mit der Arbeit von Mascha Madörin, die sie die letzten zwanzig Jahre geleistet hat, haben wir uns eine Grundlage aufgebaut und kommen in kleinen Schritten voran.

M.M.: Persönlich habe ich immer vertreten, dass Parteien eine doppelte Struktur der Öffentlichkeitsarbeit brauchen. Eine Struktur sollte wie bisher orientiert sein und eine andere sollte längerfristige Debatten darüber führen, was wir uns für die Zukunft überlegen müssen, in Zeiten grosser Umbrüche sehr viel.

 

 

In der feministischen Bewegung finden Ihre Ansätze Anklang. Auch die Forderungen, die in die institutionelle Politik reingetragen werden. Als Beispiel würde ich da die kürzlich geführte Debatte zur AHV in der Schweiz nennen …

 

C.R.: Bei der AHV ist es uns ganz gut gelungen, in der Debatte zu argumentieren. Auch wenn das Ergebnis dann in der Mehrheitsentscheidung ein anderes war. Die Frage ist, wie lange lassen sich die Frauen diese Behandlung gefallen? Ich bin ja immer ganz verwundert, wie leidensfähig alle sind. Beim Gehaltsunterschied, und das ist ja auch Geld, das in Haushalten fehlt, ist die Schweiz immer noch bei den Ländern, in denen der Unterschied am grössten ist.

 

Was wünschen Sie sich für die künftige Debatte? 

 

M.M.: Wir müssen lernen, ökonomisch in anderer Art und Weise über diese Fragen nachzudenken. Das sitzt sehr tief. Ich bin allerdings nicht sehr optimistisch. Provokativ gesagt: Viele Debatten – auch zu Gender – laufen kombiniert mit schlechten Ökonomietheorien. Das ist eines der Grundprobleme. Wir sind jetzt in einer Situation, in der wir einfach eine realistischere Ökonomik brauchen würden. Das betrifft vor allem die Rolle des Staates und öffentliche Finanzen in der Wirtschaft und – klar – die Sorge- und Versorgungsökonomie.

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