- Im Gespräch
«Wir brauchen eine neue politische Führung»
Gershon Baskin, stehen Sie seit den Verhandlungen über die Freilassung von Gilad Shalit 2011 in Kontakt mit Hamas-Leuten?
Ja, seit 18 Jahren stehe ich in Kontakt mit der Hamas.
In den letzten Wochen haben wir im Fernsehen eine Machtdemonstration gesehen. Die Übergaben der Geiseln werden von der Hamas immer professioneller inszeniert. Wie sollen wir das verstehen: Hat Hamas noch die Kontrolle im Gazastreifen?
Sie hat die Kontrolle, aber nur, weil es sonst niemanden gibt. Es herrscht ein Machtvakuum. Die Leute, die jetzt das Sagen haben, sind nicht die politische Führung der Hamas. Keiner der politischen Führer befindet sich mehr in Gaza. Die hochrangigen militärischen Befehlshaber wurden alle von Israel getötet. Die Leute, die jetzt das Sagen haben, sind Offiziere der zweiten, dritten und vierten Ebene des militärischen Flügels der Hamas. Offensichtlich gibt es genügend Verbindungen, so dass die Vereinbarung, die auf politischer Ebene durch die Kataris, die Ägypter und die Vereinigten Staaten getroffen wurde, im Gazastreifen durchgesetzt wird. Die Tatsache, dass diese Militärs dort sind, spiegelt vor allem wider, dass es sonst niemanden gibt. Niemand sonst hat eine Alternative geschaffen. Israel hat sich geweigert, sich mit der Idee einer Alternative zu befassen und hält den Mythos am Leben, dass wir die Hamas militärisch zerstören können. 2,2 Millionen Menschen im Gazastreifen kämpfen täglich ums Überleben, um Nahrung, um eine Unterkunft, um alles, was man zum Leben braucht.
Und die Hamas ist in der Lage, 15-, 16-, 17-jährige Jungen zu nehmen und ihnen 200 Dollar, eine Uniform und eine Waffe zu geben und eine Show zu veranstalten. Es gibt das Element der Angst, das Machtvakuum, die Tatsache, dass die Hamas in der Lage war, humanitäre Hilfe zu stehlen oder Leute zu korrumpieren, um humanitäre Hilfe zu stehlen und sie zu verkaufen, um ihre Operationen weiter zu finanzieren. Hamas ist nicht mehr in der Lage, neue Waffen zu bauen. Sie nehmen israelisches Material, das nicht explodiert ist, und verwenden es für Schiesspulver und Munition, aber sie haben nur begrenzte Vorräte. Ich glaube nicht, dass sie über grosse Mengen von Raketen verfügen, die sie einsetzen können. Aber sie haben immer noch genug Waffen, um israelische Soldaten zu töten, solange israelische Soldaten vor Ort sind. Das ist die Realität. Was sie gemacht haben, ist eine sehr gute Show, die so aussieht, als hätten sie die Kontrolle, als gäbe es dort eine Truppe…
… eine sehr disziplinierte …
…eine sehr disziplinierte. Aber im Moment ist es ein Regime der Angst.
Hat die Hamas die ganze Zeit über ein Regime der Angst aufrechterhalten?
Es war immer ein Regime der Angst. Nicht in dem Ausmass, wie es heute der Fall ist. Es war wie in den alten Tagen der kommunistischen Partei der Sowjetunion; man bekam nur Unterstützung, wenn man zu ihnen gehörte. Im Laufe der Jahre haben mich viele Menschen gebeten, sie finanziell zu unterstützen und ihnen bei Spendenkampagnen zu helfen, Geld für Studiengebühren und Geld für Lebensmittel und Gesundheitsfürsorge und all solche Dinge. Ich habe ihnen die Telefonnummern der zuständigen Minister und der Hamas-Regierung gegeben. Und in 99 Prozent der Fälle kamen sie zu mir zurück und sagten: «Ich kann sie nicht anrufen, sie geben nur ihren eigenen Leuten Auskunft.» Das war also die Realität, die sie dort erlebt haben. Die Hamas ist seit 2006 an der Macht und die Menschen in Gaza können sich an nichts anderes erinnern.
Unterstützt die Mehrheit der Menschen in Gaza noch die Hamas?
Nach meiner Einschätzung hat die Hamas weniger als 10 Prozent Unterstützung vor Ort. Die Menschen wollen, dass die Hamas verschwindet.
Die Palästinenser aus Ostjerusalem und dem Westjordanland, mit denen ich gesprochen habe, sehen die Hamas als eine Widerstandsorganisation an.
Der Unterschied zwischen den Menschen in Gaza und den Menschen in der Westbank besteht darin, dass die Menschen, die nicht in Gaza leben, Hamas als eine Widerstandsorganisation sehen, die sich erfolgreich gegen Israel stellt. Die Menschen in Gaza verstehen, dass es keinen lebensfähigen bewaffneten Kampf mehr gibt. Das ist etwas, was die Palästinenser nicht verbalisieren. Aber wenn man mit den Menschen in Gaza spricht, die heute obdachlos sind, die alles verloren haben, dann sagen sie, dass wir so nicht weitermachen können. Jeder hatte Familienangehörige, die getötet oder verwundet wurden, es gibt Zehntausende von Waisen, Hunderttausende von Verwundeten, zwei Millionen Menschen sind obdachlos.
Palästinenser in der Westbank haben eine andere Perspektive.
Es ist definitiv eine Frage einer anderen Perspektive. Die Palästinenser in Ost-Jerusalem und im Westjordanland sind der Meinung, dass die Hamas am 7. Oktober erfolgreich war. Ihr Narrativ sind nicht die Gräueltaten, die die Hamas in Israel begangen hat, sie leugnen sie, sie sagen, es seien falsche Narrative, Lügen. Was sie sehen, sind Helden, die Israel herausfordern. Auf den Telegram-Seiten der Hamas liest man von ihrem Sieg. Es ist kein Sieg für Israel, es ist kein Sieg für Palästina. Alle haben verloren, es gibt keine Sieger.
Ich treffe oft auf Israelis, aber auch auf Juden im Ausland, die darauf bestehen, dass die Palästinenser die Gräueltaten des 7. Oktobers anerkennen, bevor sie mit ihnen ins Gespräch kommen.
Ich gehe es anders an und sage: Seit hundert Jahren bringen wir uns gegenseitig um. In diesen hundert Jahren, auch in den letzten anderthalb Jahren, haben wir alle moralische Grenzen überschritten. Wir haben beide Dinge getan, die niemals hätten getan werden dürfen. Es gibt keinerlei Rechtfertigung für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, die wir beide begangen haben, und jetzt müssen wir damit aufhören und weitermachen. Wir können die nächsten hundert Jahre damit verbringen, uns gegenseitig die Schuld für das zu geben, was der andere uns angetan hat, es wird uns nicht weiterbringen. Die Israelis wollen, dass die Palästinenser das verurteilen, was die Hamas am 7. Oktober getan hat, und die Palästinenser wollen, dass die Israelis die Besetzung und die Kriegsverbrechen anerkennen.
Im Dialog mit den Palästinensern in Ihren Treffen und Organisationen gehen Sie nicht von diesem Punkt aus. Niemand fordert den anderen auf, Stellung zu beziehen.
Ich denke, wir sind über diesen Punkt hinaus. Ich habe das in der Vergangenheit getan. Ich habe mehr als 2000 Treffen zwischen Israelis und Palästinensern organisiert, lange Treffen. Ich hatte jeweils die ersten anderthalb oder zwei Stunden für etwas genutzt, das ich Katharsis nennen würde: Alles ausschütten, alles loswerden. Und dann haben wir damit aufgehört und nach vorne geschaut. Wir werden uns nie darüber einigen, was geschehen ist.
Rashid Khalidi, der Wissenschaftler von der Columbia University, hat in seinem letzten Buch «Der hundertjährige Krieg gegen Palästina» sehr eloquent formuliert: Die Palästinenser werden den Zionismus niemals akzeptieren. Sie werden den Zionismus niemals als etwas anderes betrachten als westlichen Kolonialismus, der darauf abzielt, Menschen aus ihrem Land zu vertreiben. Wir können diese Diskussion von jetzt an bis in alle Ewigkeit führen. Es wird uns nicht weiterbringen. Die Israelis sagen, dass die Palästinenser ein erfundenes Volk sind, dass sie nie hier waren, dass es so etwas wie ein palästinensisches Volk nicht gibt. Darüber kann man hundert Jahre lang streiten. Was wir anerkennen müssen, ist, dass es – auch nach diesem Krieg – 7 Millionen israelische Juden und 7 Millionen palästinensische Araber gibt, die zwischen dem Fluss und dem Meer leben. Jetzt müssen wir herausfinden, wie wir hier leben können, ohne uns gegenseitig umzubringen. Was wird dazu nötig sein? Es muss damit beginnen, dass wir den Grundsatz akzeptieren, dass wir alle das gleiche Recht auf die gleichen Rechte haben. Keine historischen Rechte. Wir sind hier 7 Millionen israelische Juden, 7 Millionen palästinensische Araber. Wir müssen anerkennen, dass beide Völker hier gekämpft haben, bereit waren zu töten und zu sterben für einen territorialen Ausdruck ihrer Identität. Deshalb liegt die Lösung nicht in einem demokratischen Staat für beide Völker. Israelis und Palästinenser wollen nicht in den Vereinigten Staaten von Israel/Palästina leben.
Die Palästinenser wollen in einem palästinensischen Nationalstaat leben, die Israelis wollen in einem jüdischen Staat leben. Sie waren und sind bereit zu kämpfen, zu sterben und zu töten, um einen Ort zu haben, den sie ihr Eigen nennen und mit dem sie ihre Identität verbinden. Und die einzige Möglichkeit, das zu erreichen, ist die Teilung. Aber Teilung kann nicht bedeuten, Menschen in Käfige zu sperren. Es gibt keine gerechte Friedenslösung, wenn die Menschen hinter Mauern und Zäunen leben, die den Kontakt verbieten und verhindern. Jede Art von Zweistaatenlösung muss anerkennen, dass das ganze Land eine palästinensische Heimat ist, und dass das ganze Land eine jüdische Heimat ist. Man kann die Juden nicht von ihren emotionalen und historischen Gefühlen zu Judäa und Samaria trennen, und man kann die Palästinenser nicht von Haifa, Ramle, Jaffa und Lydda abkoppeln. Das wird einfach nicht passieren. Was wir tun müssen, ist, eine Lösung wie in der Europäischen Union zu finden. Dort kann man Bürger eines Landes sein und in einem anderen Land wohnen. Das sind die Art von Lösungen, nach denen wir suchen müssen. Wir müssen anerkennen – ob es uns gefällt oder nicht –, dass in diesem Land zwei nationale Gruppen leben.
Glauben Sie, dass Israel und Hamas in die zweite Phase der Verhandlungen einsteigen?
Wenn Donald Trump zu Netanjahu sagt: Du wirst dieses Abkommen schliessen, du wirst es umsetzen, dann wird es geschehen. Netanjahu wartet ab, ob Israel unter den Bedingungen der ersten Phase – also mit dem gleichen Schlüssel für die Gefangenen und ohne Abkommen über Abzug oder Beendigung des Krieges – mehr Geiseln freibekommt. Die Hamas wird dem nicht zustimmen, die Ägypter und die Katarer werden dem nicht zustimmen. Was wird Trump tun? Niemand weiß es.
Wird Israel Siedlungen im Norden des Gazastreifens errichten?
Warum nur im Norden des Gazastreifens? Israel will den ganzen Gazastreifen. Das hängt auch von Trump ab. Trumps lächerlicher Plan der Evakuierung und Immobilienentwicklung, die Gaza-Riviera, wird nicht umgesetzt werden. Es könnte eine Verhandlungstaktik sein: Er wirft etwas Verrücktes vor und verhandelt dann unter dem Tisch, wie er es mit Mexiko und Kanada getan hat.
Wie soll Ihres Erachtens die zukünftige Regierung von Gaza aussehen?
Realistisch ist, dass der 90jährige palästinensische Präsident, der 19 Jahre lang und vier Amtszeiten regiert, jemanden ernennt, der legitim und für die Bewohner des Gazastreifens, für die Nachbarn Ägypten und Israel und die anderen arabischen Länder, die den Wiederaufbau finanzieren, akzeptabel ist. Diese Person müsste eine Regierung in Gaza bilden, die für zwei bis drei Jahre eine Übergangsregierung sein wird, bis die Palästinenser Wahlen abhalten können. Und die Regierung darf nicht aus der Hamas bestehen.
Gibt es eine solche Person?
Nasser Al-Kidwa ist die einzige Person, die ich kenne, die das tun kann. Die Amerikaner würden wohl den ehemaligen palästinensischen Premierminister Salam Fayad vorziehen. Aber er ist nach meiner Einschätzung nicht in der Lage, das zu tun. Nasser Al-Kidwa kann es. Er stammt aus Khan Junis, er ist der Neffe von Ararat, er war 17 Jahre lang PLO-Botschafter bei der UNO, er war Aussenminister der Palästinensischen Autonomiebehörde, er leitete 2021 die Yasser-Arafat-Stiftung. Als Wahlen abgehalten werden sollten, die Abbas absagte, stellte Nasser eine politische Liste von Fatah-Leuten auf, die gegen Abbas waren. Diese Liste wurde von Marwan Barghouti unterstützt. Marwans Frau war die Nummer zwei auf dieser Liste. Nasser ist fähig und willens, diese Aufgabe zu übernehmen. Er lebt derzeit im Exil in Frankreich.
Sie glauben nicht, dass Marwan Barghouti der richtige Mann wäre?
Nun, zum einen wir wissen nicht, ob Marwan aus dem Gefängnis entlassen wird. Zum anderen wissen wir auch nicht, ob Marwan Barghouti, der das Symbol des palästinensischen Kampfes ist, überhaupt eine Vorstellung davon hat, wie man regiert. Marwan könnte ein symbolischer Präsident sein, ich bin mir nicht sicher, ob er regieren kann.
Alle sprechen von ihm als dem palästinensischen Nelson Mandela.
Richtig, denn seit 22 Jahren hat er seinen Mund nicht mehr aufgemacht. Er hatte eine Führungsrolle in der Zweiten Intifada, er ist ein Symbol des Widerstands. Und er ist ein Mann, der zu seinem Wort steht, ein Mann mit Prinzipien. Aber seit 22 Jahren hat Marwan nichts mehr gesagt.
Mit Ausnahme der Veröffentlichung des Gefangenendokuments.
Ja, das Gefangenendokument von 2006 hat er mit den Vertretern aller anderen palästinensischen Fraktionen ausgehandelt. Es fordert die Zwei-Staaten-Lösung, auch die Vertreter der Hamas hatten zugestimmt.
Was halten Sie von dem, was jetzt in der Westbank vor sich geht?
Es ist eine Provokation Israels, um den Waffenstillstand in Gaza zu brechen. Israel hat seit Beginn des Krieges über hundert Menschen getötet. Es hat 20 palästinensische Gemeinden evakuiert und seit Beginn des Krieges mehr als 16 neue Aussenposten und Siedlungen gebaut, ohne dass es jemand davon Kenntnis nimmt. Jetzt führt Israel eine Militäroperation in der gesamten Westbank durch. Das ist eine Provokation.
2005 zog Sharon aus dem Gazastreifen ab und baute stattdessen Siedlungen auf der Westbank.
Scharons einseitiger Rückzug aus dem Gazastreifen ohne Verhandlungen mit den Palästinensern und die anschliessende Schliessung der Grenze sollten der Welt zeigen, dass die Palästinenser scheitern werden, wenn sie sich selbst regieren. So hoffte er, den Druck von Israel zu nehmen, das Gleiche in der Westbank zu tun. Aber Sharon hatte einen Schlaganfall und konnte nicht mehr regieren, und dann kam Ehud Olmert. Und Olmert glaubte an die Zweistaatenlösung. Er hat mit Abbas verhandelt. Abbas hat sein Angebot weder angenommen noch abgelehnt. Und dann wurde Olmert mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert und trat vom Parteivorsitz zurück. Seiner Nachfolgerin Tzipi Livni gelang es nicht, eine Regierung zu bilden.
Glauben Sie, dass Israel sich aus dem Gazastreifen zurückziehen und als Gegenleistung mehr oder die gesamte Westbank übernehmen wird?
Alles hängt von Trump ab. Er ist unberechenbar. Es hängt auch von der israelischen Bevölkerung ab. Wir müssen Wahlen abhalten. Wir müssen Netanjahu loswerden, wir brauchen eine neue politische Führung.