Winterthur-Süd: Top oder Flop?

Vor sechzig Jahren wurde mit dem Bau der Umfahrung Winterthur das Autobahnzeitalter in der Region eingeläutet. Heute ist diese Autobahn der Schlüssel zu einem der grössten Entwicklungsgebiete der Stadt Winterthur. An einer Veranstaltung des Forum Architektur gaben Projektleiter Martin Jakl und Stadtbaumeister Jens Andersen am 13. April Einblick in die Entstehung des «Masterplans Winterthur-Süd», der im Herbst dem Winterthurer Stadtrat vorgelegt werden soll.

 

Matthias Erzinger

 

«Es ist eine einmalige Chance für Winterthur, die wir unbedingt packen sollten». Der Winterthurer Stadtbaumeister Jens Andersen findet klare Worte zur Stadtentwicklung in Winterthurs Süden, dort wo Töss und Kempt aufeinandertreffen, sich die N1, die jetzige Eisenbahn und zukünftig die Mehrspur Zürich-Winterthur treffen. Nach langem hin und her ist es der grün-roten Mehrheit im Winterthurer Stadtrat gelungen, das Bundesamt Astra zu einem Marschhalt zu bewegen. Dieses wollte die bereits jetzt bestehende Umfahrung Winterthur um zwei Spuren erweitern, um einen chronischen Engpass zu beseitigen. Die Stadtteile Töss und Wülflingen wären noch stärker als bis anhin durch die gewaltige Autobahnkerbe entzweigeschnitten gewesen. Nun wird geprüft, diese Autobahn in den Berg zu verlegen. Dadurch würde ein seit 60 Jahren belegtes Areal von der Grösse des ganzen Kreises 5 in Zürich im Süden Winterthurs für eine Neuentwicklung frei. 

 

Vor 60 Jahren: Töss hinters Licht geführt

Als «städtebauliches Verbrechen» wurde die Autobahnumfahrung Winterthur vor einiger Zeit in einer Diskussion zur Stadtentwicklung Winterthurs bezeichnet. Bereits bei der Planung regte sich grosser Widerstand gegen die Linienführung, wie sie die damals zuständige Zürcher Baudirektion vorsah. Entlang der Hügel zerschnitt sie die Verbindung zum Quartier Dättnau, führte über dem Fluss Töss entlang dem gleichnamigen Stadtteil, um dann bei Wülflingen Richtung Norden abzubiegen. Nach Protesten der Bevölkerung und der damaligen – bürgerlich dominierten – Winterthurer Stadtregierung zeichnete ein Ingenieur eine Linie durch den Hügel als generelles Projekt – die Idee eines Tunnels, um Töss zu schonen, war geboren. Eine Verlagerung weiter in den Süden wurde aus umweltschützerischen Argumenten und aus Kostengründen verworfen. Am 9. November 1961 verabschiedete die Zürcher Regierung ein «Generelles Projekt» durch das Schlosstal, das eine Linienführung im Berg vorsah. Auch der Bundesrat verabschiedete dieses Projekt ein Jahr später. Dann wird das Detailprojekt ausgearbeitet – und statt im Tunnel wird die Autobahn wieder aussen durchgeführt. 1964 wird die Schneise durch Töss gebaut. Seither ist die Lärmbelastung in Töss ein Thema. Seit 1986 wird etwa eine Temporeduktion auf 80 km/h gefordert. Aktuell wird das Teilstück provisorisch erweitert, indem die Pannenstreifen zu Fahrstreifen umfunktioniert werden. 

 

«Der Marschhalt bei der Autobahnerweiterung ist eine Chance für uns, dieses Gebiet neu zu denken», sagt Stadtbaumeister Jens Andersen. Denn nicht nur die Autobahn ist eine Schlüsselstelle der Stadtentwicklung, sondern auch der Mehrspurausbau Zürich- Winterthur der SBB mit dem Brüttenertunnel und eine auch durch einen parlamentarischen Vorstoss geforderte S-Bahn-Haltestelle bilden grundlegende Faktoren. Diese müsste aber Stand heute vom jetzigen Richtplaneintrag deutlich nach Süden verlegt werden. Dort, wo sich Töss, Kempt, Autobahn und Eisenbahn treffen. Anstelle der jetzigen Autobahn denkt das Amt für Städtebau an eine Aufwertung der Zürcherstrasse zu einem baumgesäumten Boulevard – und nimmt damit auch eine Idee von Anfang der 2000er-Jahre wieder auf. Neben den durch die Autobahnverlegung freiwerdenden Flächen bildet auch das angrenzende, rund 80 Hektar grosse Rieter-
Areal ein Entwicklungsgebiet. Ein letzter Faktor schliesslich, der die Entwicklung wesentlich mitprägen wird, ist die Töss, die nach den Überlegungen der StadtplanerInnen aus ihrem Kanalkorsett unter der Autobahn befreit und zu einem Erholungsraum werden soll.

 

Mehr als nur schöne Träume?

Töss ohne Autobahnlärm, statt Garagen-Slum ein aufblühendes Quartier für Wohnen und Arbeiten für Tausende von Menschen, das abgehängte Quartier Dättnau wird zu einem integralen Teil Winterthurs, die Mobilitätsdrehscheibe im Süden entlastet den Hauptbahnhof, auch das Rieter-Areal wird bei der Gesamtplanung mitgedacht: Der von den Stadtplanern angedachte Masterplan ist mehr als nur eine Reparatur des «Verbrechens» Anfang sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Er eröffnet für Winterthur Potenziale, welche die Bevölkerungszunahme auffangen können, ohne anderenorts ungebührlich verdichten zu müssen. Der Weg dazu allerdings wird steinig sein. «Das Unterfangen kann nur gelingen, wenn die Winterthurer Politik hier zusammensteht», hält Jens Andersen fest. Das heisst, dass auch Rot-Grün Zugeständnisse machen muss, genauso wie die konservative Seite. Und Winterthur wird wohl investieren müssen, um die notwendige planerische Kraft entwickeln zu können, um dem Bundesamt für Strassenbau eine Tunnelvariante abzuringen. Vorerst sind die Erweiterungspläne beim Astra zur Seite gelegt. Im Herbst wird der Winterthurer Stadtrat über den Masterplan entscheiden, danach müssen die verschiedensten Richtplaneinträge mit Kanton und Bund ausgehandelt werden. Es dürfte bis zu einer allfälligen Umsetzung weit in die 2040er-Jahre hineindauern. Umso wichtiger, dass jetzt die Chance gepackt wird und nicht wegen unterschiedlichen Detailinteressen aufs Spiel gesetzt wird.

 

Unter www.toess.ch/der-bau-der-autobahn/ findet sich ein ausführlicher Artikel über die Geschichte der Umfahrung Winterthur aus dem Jahre 2003.

 

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