Wieviel Staat?

In einer Replik auf meine letzte Kolumne kritisierte der Autor meine etwas zugespitzte Aussage, die Liberalen würden am liebsten den Staat abschaffen: Die Frage, die sie stellen, sei nicht, ob wir einen Staat brauchen, sondern wieviel Staat wir brauchen. Damit hat er natürlich recht. Schon in meiner Jugendzeit in den 1980er-Jahren warb die FDP mit dem Slogan «Mehr Freiheit – weniger Staat». Und schon damals trieb mich diese Formulierung um. Mit nur vier Wörtern behauptet sie einerseits, «Freiheit» und «Staat» seien zwei gegensätzliche Pole, und anderseits, «Staat» sei eine Grösse, die sich messen lasse.

Die Vorstellung, zwischen den Polen «Freiheit» und «Staat» lasse sich eine Gerade ziehen, stammt noch aus dem Beginn des Liberalismus, als das Bürgertum in Europa die feudalen Machtstrukturen des Mittelalters wegfegte. Der Staat war damals ein Herrschaftsinstrument der adligen Elite. Die Idee der Freiheit des Bürgers, seine Meinung zu äussern, freien Handel zu treiben oder gleichberechtigt am politischen Prozess teilzunehmen, stand tatsächlich in einem direkten Widerspruch zu diesem Staat. Allerdings verstanden die Bürgerlichen unter dem «Bürger» den wohlhabenden Mann; Bauern und Arbeiter waren, wie die Frauen, nicht mitgemeint. Unterdessen hat sich der Staat gewandelt zu einer Institution, die (zumindest in unserem demokratischen Verständnis) genau diese Freiheiten für alle zu schützen sucht. Obwohl die Liberalen diesen Staat zu einem wesentlichen Anteil mit aufgebaut haben, sehen sie ihn auch heute als Bedrohung für ihre Vorstellung der Freiheit – wohl weil sie damit immer noch die Freiheit des wohlhabenden Mannes meinen. Sie stehen damit nun auf der anderen Seite: Die «Reichen und Schönen» sind längst zu einer adelsähnlichen Elite geworden, in die man kaum noch anders als durch Geburt oder Heirat aufsteigen kann; sie heissen einfach nicht mehr Adlige, sondern Investoren. Darüber, dass ausgerechnet die Parteien, die sich «liberal» nennen, heute eine Politik machen die einseitig den Interessen dieses neuen Adels dient, können auch die Mantra-ähnlichen Beschwörungen von KMU-Romantik nicht hinwegtäuschen.

Zur Frage, wie sich denn das Ausmass an «Staat» messen lasse, finden wir den Begriff der Staatsquote, die die Ausgaben des Staates in ein Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt (BIP) setzt. Die Kosten der Verwaltung in einen Bezug zur Wirtschaftsleistung zu setzen, leuchtet erst mal ein. Was mir weniger einleuchtet ist, dass diese Rechnung nur für den Staat gemacht wird. In der Wirtschaft dagegen scheint das Ausmass des unproduktiven Verwaltungs-Overheads, etwa an Consulting- oder Branding-Aufwänden, nicht zu interessieren; es dürfte gigantisch sein. Auch die Vermögensverwaltungs- und die Steuerberatungsindustrie erfüllen keinerlei volkswirtschaftlichen Zweck. Eine Quote, die die Kosten solcher unproduktiver Verwaltungsleistungen ins Verhältnis zum BIP setzt, wäre gewiss interessant. 

Sehr viel mehr als dem Staat muss ich meinem Vermieter abgeben. Auf diese Zwangsabgabe schlägt dieser, anders als der Staat, über die tatsächlichen Kosten hinaus auch noch eine Rendite. Das Ausmass dieser völlig leistungsfreien Umverteilung von jenen, die für ihr Geld arbeiten, zu jenen, die es schon haben, kann man nur erahnen – auch diese Quote interessiert die Bürgerlichen nicht, sie finden das normal.

Die Frage, wieviel Staat angemessen sei, scheint mir falsch gestellt. Relevant für die politische Auseinandersetzung ist die Frage, welche Leistungen der Staat erbringen und wem er dienen soll. Und die gleiche Frage muss man sich auch in Bezug auf die Wirtschaft stellen.