Wie privat muss das Politische sein?

Ich kann mich daran erinnern, wie ich es komisch fand, dass im Nationalrat alle Interessensvertreter:innen in der zuständigen Kommission sitzen. Im Gemeinderat war das eher verpönt und es gibt da auch eine klare Ausstandsregelung (die dennoch immer wieder zu Diskussionen führt). Nun hat das durchaus Vor- und Nachteile. Die Nachteile liegen auf der Hand und lassen sich immer wieder in der Gesundheitskommission betrachten. Das geben selbst jene zu, die selber Interessensvertreter:innen sind. So meinte Mitte-Nationalrat Lorenz Hess, der selber ein Krankenkassenmandat hat, gegenüber SRF: «Im Parlament haben wir eine Überzahl von Leuten, die die Leistungserbringer-Seite vertreten.» Die Problematik wird zwar allenthalben anerkennt. Es passiert aber nichts. 

Es gibt allerdings auch die andere Seite. Interessensvertretung ist eben durchaus auch ein Teil der Politik. Eine Präsidentin des Mieter:innenverbands wird durchaus auch gewählt, weil man sich erhofft, dass sie sich für ein starkes Mietrecht einsetzt. Das Gleiche gilt auch für Hauseigentümerverbände, Gewerkschaften oder Gewerbeverbände. Das heisst, man wählt den Vertreter des VCS auch, weil man will, dass er Verkehrspolitik macht und nicht etwa beispielsweise Gesundheitspolitik.  

«Dass zwei sich widersprechende Dinge gleichzeitig wahr sein können, lernt man erst spät, aber sobald man es verstanden hat, lösen sich viele Knoten.» Diesen Satz der spanischen Autorin Alana Portero postete die Geschlechterforscherin Franziska  Schutzbach auf der Karriereplattform LinkedIn. Und er scheint mir gerade in dieser Frage besonders zutreffend. Ich tue mich seit Jahren schwer mit diesem Thema und es sind viele Widersprüchlichkeiten in meiner Haltung, die mir selber zwar eigentlich ganz logisch erscheint. So wie es beispielsweise einen durchaus berechtigten Anspruch gibt an die Politik, das Allgemeinwohl zu vertreten. Aber auch dadurch, dass die Vorstellung von Allgemeinwohl eben auch damit zusammenhängt, welche Interessen man vertritt. 

Weil es eben im Nationalrat und in der Schweizer Politik sehr wenig klare Regeln gibt, um Korruption zu vermeiden, hat sich in den letzten Jahren die Transparenz als Lösungsmittel durchgesetzt. Statt zu verbieten, sollen die Leute halt ihre Mandate offenlegen. Statt einer staatlichen Parteienfinanzierung jetzt also die Transparenz in der Politfinanzierung. Das ist im Prinzip schon gut, aber hat eben auch gewisse Pferdefüsse. Wir wissen es bei den Managerlöhnen: Die Lohntransparenz hatte teilweise keine dämpfende, sondern eine preissteigernde Wirkung. Weil Managerin A sich mit Manager B vergleichen konnte und dann auch den gleichen Lohn einfordern kann. Und auch diese Interessenbindungsbekundung im Nationalrat scheint mir eher eine Prestigegeschichte zu sein als irgendwas Schambehaftetes. 

Ein ähnlicher Widerspruch ist die Frage, wie sehr Biographisches und Identitäres die Politik beeinflusst. So setze ich mich seit Jahren für eine ausgewogene Vertretung der Geschlechter in der Politik ein. Zum einen aus der Überzeugung, dass Politik auch eine gewisse Repräsentation der Bevölkerung sein soll, und zum anderen, weil tatsächlich Frauen im Durchschnitt aufgrund der eigenen Lebenserfahrung für gewisse gleichstellungs- und familienpolitische Anliegen offener sind, wie beispielsweise in der Frage der Kinderbetreuung. Aber das heisst eben auch nicht, dass dies Frauen zwingend mehr vertreten würden als Männer. Genauso wenig wie es heissen sollte, dass man sich nur für Kinderbetreuung einsetzen kann, wenn man selbst Kinder hat. Dass sich Kinderlose (insbesondere Frauen) noch immer öffentlich rechtfertigen müssen, ist etwas, was mir sowieso Mühe macht. Weil, eigentlich geht es uns ja auch nichts an. Aber Sie sehen, auch hier sind zwei sich widersprechende Dinge gleichzeitig wahr.

Ich halte es auch für ein Grundsatzproblem, dass das Parlament, das ja eben eigentlich repräsentativ für die Bevölkerung sein müsste, dies insbesondere sozioökonomisch nicht ist. Parlamentarier:innen sind schon auf kommunaler Ebene häufig besser ausgebildet und besser verdienend als der Durchschnitt der Bevölkerung. Was einerseits mit der wachsenden Anforderung des Milizbetriebs einhergeht, die sich nicht mit jeder Arbeit vereinbaren lässt – und vielleicht auch nicht von jedem Arbeitgeber gern gesehen wird. Aber es hat natürlich auch mit einer Kultur zu tun, die oft – wenn auch vielleicht unfreiwillig – nicht inklusiv ist und sich eher selber reproduziert. Das heisst, die Leute sind oft aus denselben Milieus, was wiederum Leute aus demselben Milieu anzieht. 

Trotzdem habe ich ein gewisses Grundunbehagen, wenn in letzter Zeit die Mode in Medien und Politik überhandnimmt, dass man gerne Parlamentarier:innen nach ihren privaten Lebensumständen befragt. Wie wohnen sie? Im Hauseigentum oder in der Genossenschaft, haben sie ein Auto oder nicht, welchen Zivilstand, welche Konfession, Kinder oder keine? Es ist zum einen der faule Journalismus, der mit solchen Parlamentarier:innen-Umfragen eine einfache Datengeschichte basteln kann, worüber sich dann die Leser:innen dann auch gut aufregen können. Denn der Trost der Presse ist, dass die Politik noch unbeliebter ist als sie. Ins Gleiche geht ein bisschen der Kampf der FDP-Gemeinderatsfraktion, wieder mal zu verlangen, dass die Gemeinderät:innen ihre Wohnform offenlegen müssen. Das Kalkül ist offensichtlich: Es soll aufgezeigt werden, dass Links-Grüne in Genossenschaften leben, um ihnen Korruption und Eigennützigkeit vorzuwerfen. Nur: Es ist nichts Ehrenrühriges daran, in einer Genossenschaft zu leben (hier müssen wir als P.S. uns selber an der Nase nehmen, weil wir einmal eine Geschichte über einen FDP-Politiker, der in einer Genossenschaft lebt, veröffentlicht haben). Zudem sind – auch wenn es leider in Politik und Medien immer wieder falsch dargestellt wird – Genossenschaftswohnungen nicht das Gleiche wie subventionierte oder staatliche Wohnungen. Genossenschaften sind eine Form des kollektiven Eigentums und einer durchaus liberalen Hilfe zur Selbsthilfe. Aber es ist auch nicht ehrenrührig, in einer subventionierten Wohnung zu leben, sofern man die Bedingungen erfüllt.

Abgesehen davon: Auch Politiker:innen haben das Recht auf ein Privatleben und eine Privatsphäre. Und auch darauf, keine Heilige zu sein. Wasser predigen und Wein trinken ist zwar sehr unbeliebt, aber sehr verbreitet, sowohl in der Politik wie auch in der Bevölkerung. Und mindestens da wäre die Verteilung mal repräsentativ.