Wie gendergerecht ist Ihre Stadt?

Eine gendergerechte Stadt berücksichtigt die Bedürfnisse verschiedener Nutzerinnen und Nutzer unabhängig von ihrer Lebensphase, sozialen oder kulturellen Verhältnisse. Doch gendergerecht sind Städte nur, wenn genau hingesehen wird und bestehende Machtverhältnisse auch infrage gestellt werden. Machtverhältnisse, die sich im Laufe der Geschichte der Stadt herausgebildet haben. 

Öffnen wir das historische Fenster und blicken wir zurück in die Zeit der Industrialisierung. Diese Epoche war von zunehmender Urbanisierung und einer demographischen Revolution geprägt. Die bis dahin vorherrschende Einheit der hauswirtschaftlichen Ökonomie löste sich auf. Sie wurde ersetzt durch die funktionale Trennung zwischen bezahlter Erwerbs- und unbezahlter Sorge- oder Care-Arbeit (das sind alle Arten von gesellschaftlich notwendiger, reproduktiver Tätigkeit: von Kindererziehung über Hausarbeit bis hin zur Fürsorge temporär oder dauerhaft pflegebedürftiger Menschen). Es war der Beginn einer Trennung der Funktionen Wohnen und Arbeiten. Diese Trennung wurde mit der Charta von Athen, die im Jahr 1933 auf dem Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (Ciam) entwickelt wurde, Inbegriff einer neuen Planungskultur. Strassen und Verkehrssysteme wurden zunehmend eingerichtet für den arbeitenden Teil der Bevölkerung, die Erwerbspendler. Und dass hier die männliche Form steht, ist kein Fehler: Die gesellschaftliche Norm sah den Mann für die bezahlte Erwerbsarbeit vor. Die Umgebungen wurden autogerechter. Die Teilhabe am städtischen Leben und die Entwicklung und Gestaltung der Stadt war insbesondere jenem Teil der Bevölkerung vorbehalten, der den Ausser-Haus-Aktivitäten nachging – den Männern. Und diese planten für den Lebensalltag, der ihnen vertraut war: Pendeln zwischen Wohn- und Arbeitsort und ein Leben, dem unbezahlte Haus- und Fürsorgearbeit weitgehend fremd war. 

Jede planerische Entscheidung prägt den Alltag von Menschen

Doch wie wirkten sich deren planerischen Entscheidungen auf unterschiedliche Lebensrealitäten aus? Während die einen optimale Infrastrukturen vorfanden, um – meist – mit dem Auto an ihren Arbeitsplatz zu gelangen, mussten sich Kinder zunehmend im privaten Umfeld aufhalten, da der autogerecht gestaltete öffentliche Raum zu gefährlich wurde. Senior:innen verloren an Autonomie, weil für sie wichtige Aufenthaltsbereiche unattraktiv wurden oder ganz verloren gingen und mehr und mehr Barrieren ihre Fusswege erschwerten. Mütter mussten ihre Kinder immer häufiger zur Schule, zum Sport, zu Besuchen bei Ärzt:innen usw. begleiten, da das Umfeld zunehmend unsicherer für Kinder wurde, um solche Wege auch allein zurückzulegen. Behinderte Menschen fanden Barrieren vor und wurden so aus manchen Räumen ausgeschlossen. Und hochbetagte Menschen, die alle 300 bis 500m den Bedarf haben, auf ihren Fusswegen eine Pause einzulegen, wurden mit der autogerechten Einrichtung der Städte aus dem öffentlichen Raum verdrängt. 

Bedürfnisse selbstverständlich berücksichtigen

Eine gendergerechte Stadtplanung ist sich dieser Verdrängungsprozesse im Raum bewusst. Und sie setzt sich dafür ein, dass die Bedürfnisse aller Nutzer:innen selbstverständlich berücksichtigt werden. Der Begriff Gender ist hier als soziologische Strukturkategorie zu verstehen. Er fragt nicht nach der Art der öffentlichen Präsenz von Frauen und Männern, sondern nach den Geschlechterverhältnissen in der Gesellschaft, die sich im Raum manifestieren. Eine gendergerechte Stadtplanung stellt die Frage der Macht im öffentlichen Raum: Wer fühlt sich legitimiert, sich den öffentlichen Raum anzueignen? Wer wird in seinem Alltag gestützt durch die Einrichtung der Stadt, durch das Verkehrssystem? Wer fühlt sich ausreichend wohl, sich in öffentlichen Parkanlagen zu erholen und zu entspannen? Wer kann seine Fusswege sicher zurücklegen, wer ist gerne mit dem Velo unterwegs in der Stadt? Oder auch: Wie kann ein Raum verändert werden, wenn er manchen Gruppen nicht mehr zugänglich ist und systematisch umgangen wird? Wie kann ein Raum besser auf die Bedürfnisse jener eingehen, die ihn heute nicht benützen?

Pfingstweidpark als gutes Beispiel gendergerechter Planung

Einige Städte und Gemeinden leisten gute Arbeit, wenn es darum geht, die Bedürfnisse unterschiedlicher Nutzer:innen zu berücksichtigen. Ein gutes Beispiel für einen gendergerecht gestalteten öffentlichen Raum ist der Pfingstweidpark in Zürich. Seiner Gestaltung ging ein vorbildlicher Planungsprozess voraus: Bereits in das Wettbewerbsprogramm wurden Genderkriterien integriert. Alle Teams mussten einen Plan «Gender Mainstreaming – Soziale Nachhaltigkeit» erstellen und standen damit vor der Aufgabe,  sich mit den Bedürfnissen verschiedener Nutzerinnen- und Nutzergruppen auseinanderzusetzen. Der Pfingstweidpark ist heute ein vielfältiger, funktional vielschichtiger Park, der von sehr verschiedenen Gruppen mit sehr unterschiedlichen Ansprüchen und Bedürfnissen zur gleichen Zeit konfliktfrei benützt wird. 

Hoher Planungsstandard, doch immer noch Luft nach oben

Insgesamt hat die Schweiz einen hohen Planungsstandard. Auch wenn meist nicht explizit benannt wird, dass Genderanliegen berücksichtigt werden, erfolgt dies in der modernen Planung heute bereits vielerorts. Wer den Eindruck hat, dass seine oder ihre Stadt ein Ort der kurzen Wege, mit sicheren Fuss- und Velowegen und mit guten ÖV-Verbindungen ist, findet sich in einer Umgebung wieder, die Sorge- oder Care-Arbeit gut stützt. Ein weiterer Hinweis, ob das Umfeld gendergerecht gestaltet ist, gibt die Antwort auf die Frage, ob man sich zu jeder Tageszeit, an allen Wochentagen und im Verlauf der Jahreszeiten in diesem wohlfühlt und sich gut fortbewegen kann – egal, ob jung oder alt, ängstlich oder mutig, mit Kinderwagen, Rollator oder Rollstuhl unterwegs. Hier ist in der Schweiz an sehr vielen Orten schon sehr viel gut umgesetzt. Luft nach oben besteht mancherorts noch immer – und zuweilen braucht es auch noch einen langen Atem, um bestehende Machtstrukturen im Raum aufzubrechen. 

* Elke Schimmel ist Raum- und Verkehrsplanerin und Co-Präsidentin des Vereins Lares (www.lares.ch)

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