Wer keine Stromfresser will, sagt Ja

Worum genau geht es bei der Abstimmung vom 18. Juni über das Klima- und Innovationsgesetz? Eine Übersicht.

Wer ist vom «Bundesgesetz über die Ziele im Klimaschutz, die Innovation und die Stärkung der Energiesicherheit», kurz Klima- und Innovationsgesetz, betroffen?

Grundsätzlich wir alle: Das Netto-Null-Ziel 2050 lässt sich nur gemeinsam erreichen. Weil aber in der Schweiz Öl- und Gasheizungen für rund einen Viertel der ausgestossenen Treibhausgase verantwortlich sind, besteht einer der Eckpunkte der Vorlage darin, dass Hauseigentümer:innen während zehn Jahren jährlich maximal 200 Millionen Franken als Unterstützung für die Umstellung auf klimafreundliche Heizsysteme wie etwa Wärmepumpen oder Holzheizungen beziehungsweise den Ersatz von Elektroheizungen bekommen sollen. Unternehmen erhalten während sechs Jahren maximal 200 Millionen Franken jährlich, um in «innovative Technologien zur Reduktion von Treibhausgasen» zu investieren, heisst es im Abstimmungsbüchlein weiter. Macht total 3,2 Milliarden Franken, verteilt über zehn Jahre. Zum Vergleich: Im Abstimmungsbüchlein zum 2019 abgelehnten CO2-Gesetz hiess es, die Schweiz habe «in den letzten zehn Jahren rund 80 Milliarden Franken für den Import von Erdöl und Erdgas ausgegeben. Dieses Geld fliesst ins Ausland ab».

Wer ist dafür, wer dagegen?

Von den Parteien sind nur die SVP und die EDU dagegen. Nein sagt weiter der Hauseigentümerverband (HEV) Schweiz, wobei einige Kantonalsektionen des HEV die Ja-Parole gefasst haben. Und gemäss der NZZ vom 23. Mai ist der Zürcher FDP-Ständerat Ruedi Noser wegen des Engagements des Verbands gegen das Klimagesetz aus dem HEV ausgetreten – «aus Protest, und das ziemlich laut». Letzte Woche hat zudem ein «Komitee Rettung Werkplatz Schweiz», hinter dem die SVP steckt, ein Flugblatt voller Falschinformationen in die Briefkästen gesteckt.

Die SVP macht uns Angst, dass wir künftig wegen des «unzuverlässigen Flatterstroms» von Solaranlagen und Windrädern in den Wintermonaten viel zu wenig Strom haben und dafür obendrein horrende Summen zahlen müssen.

In der Abstimmungszeitung der SVP hat es tatsächlich eindrückliche Zahlen: Auf der Front steht, die Energiekosten würden sich verdreifachen, «auf 9600 Franken pro Person und Jahr». Auf Seite 4 heisst es dann, für den Stromverbrauch eines durchschnittlichen Haushalts von 5000 kWh erhalte man in der Schweiz eine Stromrechnung von 1080 Franken … Auch zu Solar- und Windanlagen gibt es dort ein hübsches Zitat von Nationalrat Manuel Strupler, Gartenbauunternehmer und Landwirt, Weinfelden TG: «Denn selbst wenn wir die ganze Schweiz mit Photovoltaik-Anlagen zupflastern: Solarstrom bleibt Flatterstrom, den man kaum speichern kann.»

Was soll daran «hübsch» sein?

Gegenfrage: Wie speichert man denn nicht-flatterhaften Atomstrom? Genau gleich wie Solar- oder Windstrom, nämlich in kleiner Menge etwa in der Batterie des E-Autos. Oder, im grossen Stil, beispielsweise mittels Pumpspeicherkraftwerk oder indem man damit Wasserstoff herstellt. Kurz: Strom ist nicht «schlechter», wenn er mittels Solarpanel oder Windturbine erzeugt wird, und nicht «besser», wenn er vom AKW kommt. Aber Strom hat ganz grundsätzlich die doofe Eigenschaft, dass er sich weder in Tanks füllen lässt wie Heizöl noch aufschichten wie Brennholz.

Wie sollen wir also ausschliesslich mit erneuerbaren Energien auskommen, wenn die Sonne nicht immer scheint und der Wind nicht immer weht?

«Ausschliesslich» erneuerbare Energien verlangt erstens mit der aktuellen Vorlage niemand: Das neue Gesetz erhält keine Verbote, der Einsatz nicht-erneuerbarer Energien bleibt erlaubt. Klammer auf: Das ändert allerdings nichts daran, dass wir eigentlich schon vor mindestens zehn Jahren hätten anfangen müssen, viele Solar- und Windanlagen zu bauen. Jetzt sind wir halt sehr spät dran, aber es ist noch nicht zu spät, Klammer zu. Zweitens wäre das dann ein Problem, wenn die SVP damit Recht hätte, dass die Schweiz eine Insel ist und dass wir deshalb viele Terawattstunden des prinzipiell nicht «stapelbaren» Energieträgers Strom bildlich gesprochen für den Winter in unseren Kellern versorgen müssten, um nicht in eine Mangellage hineinzulaufen. Neue AKW bauen müssten wir laut SVP natürlich obendrein…

Ist dem nicht so?

Nein, keine Sorge: Entscheidend ist nicht allein die Produktionsmenge oder -methode, sondern auch die Verteilung, also das Stromnetz. Und das Stromnetz endet weder aktuell an der Landesgrenze noch wird es das in Zukunft tun, im Gegenteil.

Sagt wer?

Das kann man beispielsweise auf der Webseite der nationalen Netzgesellschaft Swissgrid (www.swissgrid.ch) nachlesen. Die Schweiz könne die Versorgungssicherheit beim Strom nur im Verbund mit Europa gewährleisten, heisst es dort, und weiter: «Der Netzbetrieb ist eine grenzüberschreitende Aufgabe. Die vorausschauende Planung und die Überwachung des Netzes nimmt Swissgrid gemeinsam mit den Netzbetreibern im Ausland wahr.» Klammer auf: Ohne ein Stromabkommen mit der EU wird das nicht einfacher, aber darum geht es in dieser Abstimmung nicht, Klammer zu.

Aber damit, dass der «unzuverlässige Flatterstrom von Sonne und Wind» zwangsläufig die Preise hochtreibt, hat die SVP doch recht?

Nein, hat sie nicht. Im Swissgrid-Magazin 2023 ist folgendes nachzulesen: «Seit 2021 hat sich der Strompreis signifikativ verteuert. Der wichtigste Grund dafür sind die unbeständigen Strommärkte, deren Entwicklung von der globalen Wirtschaftslage und der Geopolitik abhängt.» Nicht der Strom aus erneuerbaren Quellen ist «unbeständig» beziehungsweise «flatterhaft», sondern die Strommärkte sind es. Strom wird auf dem europäischen Strommarkt an verschiedenen Börsen gehandelt, und der Strompreis ist eng gekoppelt mit den Preisen für andere Energieträger: «Grundsätzlich werden die Kraftwerke in der Reihenfolge ihrer variablen Kosten eingesetzt. Diese sogenannte Merit-Order beginnt beim günstigsten Kraftwerk und geht so weit, bis die Nachfrage gedeckt ist. Das teuerste eingesetzte Kraftwerk bestimmt somit den Preis. Aktuell handelt es sich dabei um Gaskraftwerke, was die Verflechtung des Strompreises mit dem Erdgaspreis verdeutlicht.»

Das kann sich also auch wieder ändern?

Genau. Vor lediglich drei Jahren hatten wir das gegenteilige Problem, wie Hanspeter Guggenbühl im ‹Infosperber› vom 8. April 2020 festhielt (siehe auch P.S. vom 9. September 2022): «Der Stromkonsum in Mitteleuropa verminderte sich in den letzten Wochen um 10 bis 30 Prozent gegenüber der Vergleichsperiode im Vorjahr, dies als Folge der Massnahmen gegen die Corona-Epidemie. Damit sanken die kurzfristigen Preise auf dem Strom-Spotmarkt auf ein Rekordtief.» Und weiter: «Kohle- und Gaskraftwerke stehen jetzt mehrheitlich still, weil der Bandstrom aus Solar-, Wind-, Fluss- und Atomkraftwerken allein die meiste Zeit reicht, um die Nachfrage zu decken.»

Will heissen?

Dazu ein kurzer Exkurs: Die Standardfrequenz im elektrischen Netz Europas beträgt 50 Hertz, und diese Frequenz muss immer stabil bleiben, wie auf swissgrid.ch nachzulesen ist. Zudem brauche es eine bestimmte konstante Grundmenge, die sogenannte Grundlast, hierzulande auch Bandstrom oder Bandenergie genannt, um das System am Laufen zu halten. Im Energie-Blog auf der Webseite energie-lexikon.info des Physikers Rüdiger Paschotta ist nachzulesen, dass für die Grundlast häufig Laufwasserkraftwerke, Kernkraftwerke, Kohlekraftwerke sowie Gaskraftwerke eingesetzt werden. Der Anteil der Grundlast an der gesamten Stromerzeugung lasse sich erhöhen, indem ein Teil des Verbrauchs von den Tag- in die Nachtstunden verlegt oder indem ein zusätzlicher Verbrauch von Nachtstrom etwa mit Elektrospeicherheizungen geschaffen werde: «Ein Anreiz für letztere Strategie ist in manchen Ländern zeitweise dadurch entstanden, dass durch die Inbetriebnahme grosser Grundlastkraftwerke ein Überschuss an Grundlastkapazität entstand.»

Das tönt jetzt echt schräg.

Ja, doch genau das geschah in der Schweiz – nachzulesen in Hanspeter Guggenbühls Buch «Energiewende. Und wie sie gelingen kann» (Rüegger Verlag, Zürich/Chur 2013, 144 Seiten, 25 Franken): Noch im Jahr 1968 habe die reine Wasserkraft ausgereicht, um die ganze Schweiz mit Strom zu versorgen, ist dort zu nachzulesen. Als dann die ergiebigsten Quellen der hydrologischen Stromproduktion erschlossen waren und die Konjunktur den Stromkonsum weiter steigen liess, «stellten Stromwirtschaft und Bundesrat die Weiche, die den Schweizer Strompfad langfristig zementierte», und zwar mit dem Einstieg in die Atomenergie. Mit Folgen: «Jedes AKW erhöhte die Schweizer Elektrizitätsproduktion sprunghaft. Um den überschüssigen Atomstrom abzusetzen, kurbelten die Stromunternehmen den Konsum weiter an, indem sie in den Wärmemarkt vordrangen (…), sie förderten Elektroheizungen und Elektroboiler, indem sie die Kunden mit happigen Mengenrabatten für Heizstrom köderten. Mit Erfolg: Von 1969 bis 1989, also innerhalb von nur zwanzig Jahren, verdoppelte die Schweiz ihren Stromverbrauch.» Wohl auch deshalb gehen heute in der Schweiz rund zehn Prozent des Stromverbrauchs im Winter für den Betrieb von Elektroheizungen drauf. Laut Abstimmungsbüchlein ist das fast soviel, wie das stillgelegte Kernkraftwerk Mühleberg jährlich produziert hat. Bei einem Ja am 18. Juni können diese Heizungen nun rasch ersetzt werden: Je mehr Strom wir nicht (mehr) verbrauchen, umso besser.

Aber der Bedarf an Bandstrom legt doch erst recht nahe, dass die Erneuerbaren es nicht richten können.

Im oben erwähnten Blog des Physikers Paschotta tönt es anders: «In der Energiewirtschaft wird häufig der Standpunkt vertreten, der Anteil von Windenergie und anderen erneuerbaren Energien mit fluktuierenden Beiträgen an der Stromversorgung dürfe nicht zu gross werden, da diese Kraftwerke nicht grundlastfähig seien, ein wesentlicher Anteil an Grundlast jedoch benötigt würde.» Dagegen habe beispielsweise der deutsche Sachverständigenrat für Umweltfragen in einem Sondergutachten dargelegt, dass zukünftig kaum mehr Grundlastkraftwerke benötigt würden, sondern vielmehr ein erheblicher Teil an fluktuierenden Beiträgen von Windkraft und Sonnenenergie ergänzt werde durch schnell regelbare Kraftwerke, die in einer Übergangszeit z.B. mit Erdgas, später auch mit erneuerbaren Energien betrieben würden: «Hierfür kämen u.a. norwegische und schwedische Pumpspeicherkraftwerke infrage, wenn die Kapazitäten der Stromnetze dorthin verstärkt würden.»

Und er betont: «Ein weitgehender Konsens besteht darüber, dass ein hoher Anteil an konventionellen Grundlastkraftwerken (etwa Kohle- und Kernkraftwerken) mit einem hohen Anteil fluktuierender Quellen wie Windenergie schwer verträglich ist.» Sprich: Wenn die SVP sich jetzt lautstark Sorgen macht, dass das «Stromfresser-Gesetz» die Energiesicherheit gefährde, die Stromkosten extrem stiegen, dass bei einem Ja Autofahren und Fleisch essen verboten würden, dann ist das die grelle Vorderseite des Bildes. Auf der Rückseite stehen gut versteckt die Atom- und die Erdöllobby parat und lachen sich ins Fäustchen.

Warum denn das?

Siehe oben: Die sicherste Methode, um eine funktionierende Stromversorgung mit erneuerbaren Energien zu verhindern, besteht darin, am Atomstrom festzuhalten. Ein Beispiel: Wird viel Strom aus erneuerbaren Quellen eingespeist, könnten die Stromnetze dies unter Umständen nicht verkraften, ohne überlastet zu werden, weshalb die Netzbetreiber Gegensteuer geben müssen. Doch die Leistung von Atomkraftwerken kurzfristig zu reduzieren, ist nicht so einfach – also werden stattdessen Windturbinen abgestellt. Damit kommt weniger Windstrom im Netz an, als eigentlich möglich wäre. So gesehen erstaunt es nicht, dass Windkraftgegner:innen und Atomlobbyist:innen häufig am selben Strick ziehen, auch wenn sie das der Öffentlichkeit kaum unter die Nase reiben.

Wer dazu mehr erfahren möchte, kann sich beispielsweise in der ARD-Mediathek die Doku «Kampf im Reinhardswald» des Hessischen Rundfunks (hr) anschauen. Zitat aus der Pressemitteilung zur Doku: «So haben nach Recherchen des hr mehrere Akteure aus dem Lager der örtlichen Windparkgegner Verbindung zum Verein Bundesinitiative Vernunftkraft. Die Vereinigung gilt als Lobbyorganisation der Kohle-, Gas- und Atomindustrie. Sie lehnt Windkraft ebenso ab wie die von der Bundesregierung geplante Energiewende.»

Kommen wir zur Frage aller Fragen: Für wessen Portemonnaie ist die Vorlage gut, für wessen nicht?

Gut ist sie für die Geldbeutel von uns allen, insbesondere für jene der Hausbesitzer:innen, die günstiger zu Wärmepumpen kommen, und für Unternehmen, die ebenfalls von Fördergeldern profitieren können. Schlecht ist sie für jene, die gegen die Energiewende und für Atomkraft sind, sowie logischerweise für die Erölindustrie, siehe oben: Wenn die Schweiz in den letzten zehn Jahren rund 80 Milliarden Franken für den Import von Erdöl und Erdgas ausgegeben hat, dann ist dieses Geld zwar ins Ausland abgeflossen, aber kaum, ohne dass jemand hierzulande daran mitverdient hätte. Oder anders gesagt: Jenen, die sehr lange sehr gut verdient haben am Erdöl, bricht bei einem Ja bis 2050 das Geschäft weg. «Autofahren nur noch für Reiche?», fragt die SVP-Abstimmungszeitung bange. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt …

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