Wer beim E-Ticket zur Kasse kommt

 Ein elektronisches Tarifsystem soll den Kauf von Bahn- und Bus-Billets ersetzen. Davon träumen Fahrgäste und Systemanbieter seit Jahren. Doch vordringlicher als Elektronik ist die Frage, wie die Verkehrstarife künftig bemessen werden sollen.

 

Momentaufnahme am Bahnhof: Vor dem Billetautomaten steht ein Paar. Sie drückt Knöpfe, tippt Buchstaben. Er nestelt im Portemonnaie, wirft Münzen ein. Der Zug naht. Dahinter tänzelt ein Herr mit gezückter Kreditkarte. Der Zug hält. Der Apparat bietet eine Quittung an. Das Paar wartet. «Sie müssen Ja oder Nein drücken», erklärt der Wartende nervös. Der Zug fährt ein. Sie tippt nochmals. Jetzt surrt der Drucker, der Automat spuckt Billet, Beleg und Rückgeld aus. Das Paar stürmt mit den Koffern zum Bahnwagen. Der Mann mit Kreditkarte steigt im letzten Moment ebenfalls ein, mit schlechtem Gewissen, denn für ihn hat die Zeit zum Billetbezug nicht mehr gereicht. Wie schön wäre es, wenn wir in jeden Zug, jedes Tram einsteigen könnten, ohne uns ums Billet zu kümmern. Das denken täglich wohl Tausende von Fahrgästen, die an Schaltern Schlange stehen oder sich vor Automaten abmühen. Das Gleiche dachten auch Planer von SBB, Privatbahnen, Post und Elektronik-Anbietern, als sie in den 1990er-Jahren ein System namens «Easyride» ausheckten. Dieses hätte alle ein- und aussteigenden Fahrgäste elektronisch registrieren und ihnen die Tarifkosten jeweils Ende Monat verrechnen sollen. Doch nach der Jahrtausendwende stockte die Entwicklung. «Easyride» scheiterte, weil niemand die hohen Kosten dafür übernehmen wollte. Seither propagieren Elektronik-Anbieter wie etwa Siemens immer mal wieder ein neues System. Und Medienschaffende berichten von öffentlichen Verkehrsunternehmen (ÖVU) im Ausland, die ein elektronisches Tarifsystem, auch «E-Ticketing» genannt, planen oder bereits einführten. Daraus entsteht der Eindruck, die Schweizer ÖVU verschliefen die Entwicklung, verlören den Anschluss. Ist das so?

 

«Erst Tarife vereinfachen»

Die Frage geht an den «Verband öffentlicher Verkehr» (VöV), dessen Gremien über die Tarife der 240 Schweizer ÖV-Unternehmen – von den SBB über die Privat- und Seilbahnen bis zu den regionalen Verkehrsverbünden – befinden und sie koordinieren. VöV-Direktor Ueli Stückelberger antwortet: Die Einführung eines voll elektronischen Tarifsystems, das alle Einzelfahrten erfasst und abrechnet, brauche Zeit und habe für den VöV «zurzeit keine Priorität». Zuerst gelte es, die unterschiedlichen Tarife von Bahnen, Bussen und regionalen Verkehrsverbünden zu vereinfachen: «Handlungsdruck besteht bei der Vereinfachung der Tarife, nicht bei der elektronischen Erfassung der Einzelfahrten», betont Stückelberger. Ein einfacheres Tarifsystem erleichtere später auch die Einführung des E-Ticketing. Der VöV-Direktor relativiert auch die Vorteile: Bei den Passagieren, die sich vor Billetautomaten abmühen oder vor Schaltern Schlange stehen, handle es sich um die Minderheit. Ihre Wünsche nach Vereinfachungen seien zwar ernst zu nehmen. Doch zwei Drittel aller Fahrten im öffentlichen Verkehr entfallen laut VöV-Erhebung schon heute auf Besitzer von General- oder Verbund-Abonnementen und Tageskarten, bei denen der Billetbezug entfällt. Auf der andern Seite haben auch Chipkarten für Einzelfahrten, wie sie Holland bereits eingeführt hat, ihre Tücken. Die Passagiere zahlen dafür einen Grundpreis (was für Touristen unattraktiv ist), laden sie auf (Prepaid), und sie müssen bei jeder Fahrt ans Ein- und Auschecken denken. Für die ÖVU dürften die Kosten für die Einführung eines elektronischen Systems lange Zeit stärker ins Gewicht fallen als die Einsparungen beim traditionellen Billetverkauf. Mindestens 20 Jahre müsse die alte Infrastruktur mit Schaltern und Automaten weiter geführt werden, rechnet Stückelberger, denn: «Die Machbarkeit für 80 Prozent genügt nicht. Wir brauchen Lösungen für alle Passagiere.»

 

 Elektronik fürs «Mobility Pricing»

Die Zurückhaltung gegenüber dem E-Ticketing leuchtet ein, solange ein Grossteil der Fahrten im ÖV auf Besitzer von Abonnements entfällt. Vor allem Leute, die über weite Strecken zur Arbeit pendeln, besitzen solche Abos. Sie profitieren damit von Mengenrabatten. Diese Rabatte stehen jedoch in Konflikt mit dem Verursacherprinzip. Denn wer ein Abonnement besitzt, fährt meist in Spitzenzeiten und wird damit zum Treiber für den unrentablen Ausbau des öffentlichen Verkehrs. Das Gleiche gilt im Privatverkehr: Wer viel fährt und damit am stärksten zur Überlastung und zum Ausbau der Strassen beiträgt, bezahlt pro Kilometer Fahrt weniger, weil die Kosten fürs Auto und andere Fixkosten weniger ins Gewicht fallen. Ökonomen fordern darum seit Jahren ein verursachergerechtes «Mobility-Pricing» (fahrtenorientierte Preise); dies sowohl auf der Strasse als auch auf der Schiene. Damit würden Vielfahrende differenziert, nämlich vor allem auf überlasteten Strecken und in Spitzenzeiten, stärker zur Kasse gebeten. Ohne elektronische Erfassung jeder einzelnen Fahrt lässt sich ein verursachergerechtes – und damit noch komplexeres – Tarifsystem im öffentlichen und privaten Personenverkehr aber kaum verwirklichen. Allerdings stösst Mobility-Pricing auf erbitterten Widerstand. Nicht nur Strassenverbände und Autoclubs wehren sich dagegen, sondern auch Vertreter des öffentlichen Verkehrs: Der Ersatz von General- und Verbund-Abos durch höhere, zeitabhängige Streckentarife wäre eine «Pendlerstrafe», sagt VöV-Chef Stückelberger. Zudem könne man darüber streiten, ob ein Pendler mit GA den Bahnen wirklich höhere ungedeckte Kosten beschere als ein Automobilist, der den öffentlichen Verkehr mit Einzelbillet, aber nur bei Schneetreiben nutzt. Ueli Stückelberger findet es richtig, dass der Staat einen Teil der öffentlichen Verkehrskosten trägt, denn: «Wir sind kein Golfclub, sondern betreiben ein Verkehrssystem, das auch soziale, raumplanerische und regionalpolitische Anforderungen erfüllen und bezahlbar bleiben muss».

 

Hanspeter Guggenbühl

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