Weniger Masse, mehr Ärger
Zweimal unbewilligte Critical Mass, eine klare Tendenz: Seit die Polizei Teilnehmer:innen an der Critical Mass verzeigt und Bussen verteilt, nehmen viel weniger Velofahrer:innen daran teil als früher. Dafür rollt der öV am letzten Freitagabend des Monats ungehindert. Ziel erreicht – oder neues Ärgernis geschaffen?
Am 25. August fand die Critical Mass (CM) in Zürich zum zweiten Mal als «unbewilligte Demo» statt: Diesen Status hat sie bekanntlich, seit der Statthalter einer Aufsichtsbeschwerde der FDP teilweise stattgab und der Stadtrat sich dessen Einschätzung anschloss, bei der Critical Mass handle es sich um eine bewilligungspflichtige Demonstration (siehe P.S. vom 7. und 14. Juli). Neu war dieses Mal jedoch, dass vor der unbewilligten CM eine bewilligte Kundgebung auf der Rathausbrücke stattfand. Die Bewilligung eingeholt hat eine Einzelperson, der Velofahrer Berkin Baser.
Auf dem Flyer, mit dem er für seine Veranstaltung warb, heisst es «Ohne CM keine WM. Keine Velostadt spricht je 52 Verzeigungen aus!» Damit spielt Berkin Baser auf die CM im Juli an, die erste, die offiziell als unbewilligte Demo galt: 52 Velofahrer:innen wurden damals verzeigt. Auf seinem Flyer stehen zwei Forderungen, nämlich 1. «Absage der Züri Velo WM bis in 52 Tagen» und 2. «52 MIV-Kontrollen jeden Tag durch Spezialeinheit» (MIV steht für «motorisierter Individualverkehr» / nic.). Und ausserdem steht dort, Sicherheitsvorsteherin Karin Rykart und Stadtpräsidentin Corine Mauch sollten «endlich Verantwortung für die Mobilitätsmisere übernehmen – oder den Hut nehmen».
«Die CM ist keine Demo»
Auf Anfrage erklärt Berkin Baser, seiner Meinung nach brauche die CM keine Bewilligung, da sie keine Demo sei: «Der Stadtrat hätte den Entscheid des Statthalters weiterziehen müssen. Stattdessen hat er die CM geopfert. Was opfert er als nächstes?» Zürich sei offensichtlich keine Velostadt, also solle sie sich auch nicht damit brüsten, fügt er an – aus diesem Gedanken heraus entstand seine Forderung, die Velo-WM abzusagen. Die Kundgebung auf der Rathausbrücke hat er auf die Beine gestellt, «damit jene Velofahrer:innen, die keine Lust haben, von der Polizei gejagt zu werden, trotzdem ihre Meinung kundtun können». Das erwies sich allerdings als gar nicht so einfach: Das Velo mit der Verstärkeranlage sei auf dem Weg an die Kundgebung von der Stadtpolizei konfisziert worden, erzählt Berkin Baser. Er habe sich deswegen bei der Polizei gemeldet, doch es habe fast zwei Stunden gedauert, bis eine Ersatzlösung gefunden und das Mikrofon geöffnet werden konnte. Marc Surber vom Mediendienst der Stadtpolizei erklärt dazu auf Anfrage: «An diesem Abend wurden zwei Veloanhänger mit Lautsprecheranlagen vorsorglich sichergestellt. Aus den Erfahrungen der letzten Durchführungen der Critical Mass wurden diese Fahrzeuge als Kernstücke von jeweiligen Demozügen erkannt.»
Seit die CM als Demonstration angesehen wird, hat die Polizei ihr Vorgehen anpassen müssen. Die Vermutung liegt nahe, dass die CM für sie mit einem grösseren Aufwand verbunden ist. Dies bestätigt Marc Surber: «Ja, seitens Polizei ist jeweils ein grösseres Aufgebot notwendig, als es vor dem Entscheid des Statthalters war.» An der CM vom letzten Freitag wurden fünf Personen verzeigt und weggewiesen sowie elf Ordnungsbussen ausgestellt.
«Stopp der Repression»
«Toleranz statt Repression», das fordert der Verein UmverkehR in seiner Medienmitteilung: Ein Grossaufgebot habe friedliche Velofahrer:innen gejagt und schikaniert, schreibt UmverkehR-Geschäftsleiter Silas Hobi. «Angesichts des Klimanotstandes ist das völlig unverhältnismässige Polizeiaufgebot und die Kriminalisierung von Velofahrer:innen absolut unhaltbar, während der klimaschädliche Autoverkehr weiterhin ungebremst die Stadt flutet.» UmverkehR fordere den «sofortigen Stopp der Repression und die Tolerierung der Critical Mass in Zürich», hält Silas Hobi fest. Zudem sei das «Herumreiten auf der Bewilligungspflicht durch ‹liberale› Exponenten» fadenscheinig: «Die bewilligte Velodemo in Zürich führt zu den genau gleichen Verkehrseinschränkungen für öV und Autoverkehr.»
Michael Schmid ist Fraktionspräsident der FDP im Zürcher Gemeinderat: Ist er zufrieden mit der CM, wie sie sich nun präsentiert? Bezogen auf die Rechtslage laute seine Antwort Ja, sagt er: «Die Regeln müssen für alle gelten. Es geht nicht an, dass sich eine gut vernetzte Gruppe über alle anderen hinwegsetzt.» Der FDP sei es zudem wichtig, dass der öV unbehindert fahren könne, und das sei am Freitag der Fall gewesen. Das «Katz-und-Maus-Spiel» zwischen Velofahrer:innen und Polizei hingegen findet er nicht gut. «Doch hier hätten es die Verursacher, also die Velofahrer, in der Hand, damit aufzuhören», betont er. Und wie beurteilt er die Tatsache, dass der öV auch dann beeinträchtigt wird und es zu Umleitungen oder Ausfällen kommen kann, wenn eine Demo bewilligt ist? «Bei bewilligten Demos hat der Stadtrat für eine vernünftige Route und für Planungssicherheit für die VBZ zu sorgen. So bleibt das Grundrecht, zu demonstrieren, gewährleistet.»
A propos demonstrieren – warum nicht mal dagegen, dass die Städteinitiative noch längst nicht umgesetzt ist? Was möglicherweise etwas damit zu tun hat, dass die FDP mit grossem Eifer Einsprachen gegen Parkplatzabbau, Tempo 30 und Velovorzugsrouten macht? «Dass wir systematisch solche Einsprachen machten, ist ein Vorurteil», erklärt Michael Schmid. Urbane Mobilität müsse auf verschiedene Verkehrsmittel abstellen. Der öV transportiere jedoch klar am meisten Menschen: «Dem öV müssen wir Sorge tragen. Eine Velobevorzugung zulasten des öV lehnen wir deshalb ab. Doch in Zürich wird zurzeit das Velo über alles andere gestellt.»
Alles klar – bis auf dies: Wenn letzteres stimmt, warum nur gibt es in Zürich nach wie vor Velokundgebungen und das Bedürfnis nach einer CM, an der niemand Gefahr läuft, verzeigt zu werden?