Ist die Zeit des Atomkraftwerke, hier Gösgen, bald vorbei oder werden dereinst in der Schweiz wieder neue gebaut? (Bild: Urs Keller / Ex-Press)

Wem nützen neue AKW?

Der Bundesrat will das Neubauverbot für AKW aufheben. Am 20. Dezember 2024 startete die Vernehmlassung.

Am 20. Dezember 2024 stand der  Besuch von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Bern anlässlich des Verhandlungsabschlusses zwischen der Schweiz und der EU medial im Mittelpunkt. Dass das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek) von Bundesrat Albert Rösti gleichentags den Gegenvorschlag zur «Blackout-stoppen»-Initiative und damit die Aufhebung des AKW-Neubauverbots in die Vernehmlassung schickte, ging deshalb etwas unter. Dasselbe gilt für das «Übereinkommen über die Verlängerung des Rahmenübereinkommens über die internationale Zusammenarbeit in der Forschung und Entwicklung von Kernenergiesystemen der vierten Generation», über das der Bundesrat bereits am 13. Dezember informiert hatte.

Das Uvek veröffentlichte am 20. Dezember zum Vernehmlassungsstart des indirekten Gegenvorschlags zur Volksinitiative «Jederzeit Strom für alle (Blackout stoppen)» auf der Webseite admin.ch
einen erläuternden Bericht dazu. Die Initiative ist derart wolkig formuliert, dass der Bundesrat erst mal herausfinden musste, was die Initiant:innen gemeint bzw. gewollt haben könnten: «Obwohl nicht namentlich genannt, zielt die Initiative unter anderem auf eine Aufhebung des Neubauverbots von Kernkraftwerken in der Schweiz.» Der Bundesrat anerkenne das «Anliegen der technologieoffenen Stromproduktion zur Sicherstellung der Versorgungssicherheit, heisst es weiter, doch er lehne die Initiative ab und empfehle dem Parlament seinen indirekten Gegenvorschlag zur Annahme. Daran, dass das Neubauverbot aufgehoben werden soll, ändert sich damit nichts.

Schwache Argumente

Wie kommt der Bundesrat darauf, dass das Neubauverbot aufgehoben werden muss? Der Strombedarf steige in Zukunft «infolge des hohen Bevölkerungswachstums» stark an, aber auch wegen der «beschleunigten Dekarbonisierung», dem Netto-Null-Ziel bis 2050 und dem Krieg gegen die Ukraine, kurz: Die Rahmenbedingungen für die Versorgungssicherheit hätten sich «stark geändert». Zudem sei «nicht sichergestellt, dass die gesetzten Ziele erreicht» würden: «Es zeigt sich, dass durch die Vielzahl von Einsprachen gegen Wasser-, Wind- und Solarkraftwerke, aber auch aufgrund technischer und wirtschaftlicher Hürden, viele Projekte über Jahre oder Jahrzehnte verzögert oder gar blockiert werden.»

Hohes Bevölkerungswachstum gleich stark ansteigender Strombedarf? Bevölkerung und Wirtschaft zusammen beanspruchten Stand 2010 innerhalb der Schweiz jährlich rund 60 Terawattstunden in Form von Elektrizität, dies bei einer Bevölkerungszahl von rund acht Millionen Menschen (siehe P.S. vom 18. Oktober 2024). Gemäss Bundesamt für Energie lag der Stromendverbrauch der unterdessen rund neun Millionen Menschen in der Schweiz im Jahr 2023 mit 56,1 Terawattstunden unter dem Niveau des Vorjahres. Die inländische Erzeugung (nach Abzug des Verbrauchs der Speicherpumpen) betrug 66,7 Terawattstunden, der physikalische Stromexportüberschuss lag bei 6,4 Terawattstunden. Will heissen: 2023 exportierte die Schweiz mehr Strom, als das AKW Beznau pro Jahr liefert. Stromprodukton war noch nie eine rein technische Angelegenheit, sondern stets von politischen Entscheiden geleitet und begleitet: Brauchen wir den Strom lieber im Inland für die «beschleunigte Dekarbonisierung» und das Erreichen des Netto-Null-Ziels, oder wollen wir weiterhin den Jahresertrag von Beznau gewinnbringend ins Ausland verkaufen?

Damit zu den Zielen: Ja klar, es ist nicht sicher, dass die gesetzten Ziele bezüglich des Ausbaus der Stromproduktion mit erneuerbaren Energien erreicht werden. Wer sich ein Ziel setzt, hat nie die Gewissheit, dass er/sie es auch erreicht. Doch ist es klug, ein Ziel deshalb kurzerhand beiseite zu schieben und etwas Neues zu beginnen? Und vor allem: Wer garantiert einem, dass sich das neue Ziel eher (oder überhaupt …) erreichen lässt? Sicher ist immerhin, dass sich die Schweiz nach den ersten Verwerfungen wegen des Krieges in der Ukraine sowohl Gasimporte aus Deutschland und Italien sowie Stromimporte im bisherigen Umfang gesichert hat und die Axpo obendrein eine Beteiligung an französischen AKW bis 2039 verlängert (siehe P.S. vom 20. Dezember 2024) hat.

Bleiben der Klassiker, die angeblich (zu) vielen Einsprachen gegen Wasser-, Wind- und Solarkraftwerke und der Einwand, dass sich der Bau solcher Anlagen auch «aufgrund technischer und wirtschaftlicher Hürden» verzögern könne oder diese gar blockiert würden. Nur: Woher wissen wir, dass es beim Bau neuer AKW weder technische noch wirtschaftliche «Hürden» gäbe und auch keine Einsprachen? Oder andersrum: Warum sollten wir Solarkraftwerke in den Alpen und Windräder befürworten, wenn man uns gleichzeitig bei jeder Gelegenheit einhämmert, dass es «unsicher» sei, ob die Ausbauziele erreicht würden, und dass wir jetzt, endlich! «technologieoffen» entscheiden müssten, sprich, neue AKW bauen?

Mit AKW gegen den Fachkräftemangel?

Ein bemerkenswerter Hinweis findet sich im erläuternden Bericht des Bundesrats im Kapitel 3.4, «Einbettung in die bestehende Energiepolitik»: Es seien zurzeit in der Schweiz keine Projekte für neue Kernkraftwerke vorhanden. Auch sei «davon auszugehen, dass gegenwärtig die nötigen Fachkräfte in der Schweiz fehlen, die es für die Konzeption, den Bau und den Betrieb neuer Kernkraftwerke erfordern würde». Und weiter: «Umso wichtiger wäre die Aufhebung des Neubauverbots für Kernkraftwerke als Signal an den Fachkräftenachwuchs.» Denn die Verfügbarkeit von Fachkräften sei «auch für die Sicherstellung des Langzeitbetriebs von Kernkraftwerken zentral».

Da ist doch beruhigend, was der Bundesrat am 13. Dezember bezüglich der Verlängerung des «Rahmenübereinkommens über die internationale Zusammenarbeit in der Forschung und Entwicklung von Kernenergiesystemen der Gemeration IV» mitgeteilt hat: Das 2001 gegründete «Generation IV International Forum (GIF) verfolge das Ziel, Kernenergiesysteme der vierten Generation «bis 2030 industriell nutzbar» zu machen. Die Teilnahme am GIF eröffne den Wissenschaftler:innen in der Schweiz, konkret am Paul Scherrer Institut (PSI), «neue Forschungsrichtungen», biete spannende Forschungsthemen für Studierende und sei damit «für die Nachwuchsförderung von Bedeutung». Dank der Unterzeichnung des neuen Abkommens sollen die bestehenden Projekte nahtlos weitergeführt werden können.

Nun ist das mit den Zielen bekanntlich so eine Sache – wer weiss, ob Kernenergiesysteme der vierten Generation tatsächlich bis 2030 industriell nutzbar gemacht werden können? Aber stellen wir uns vor, dass es funktioniert – und die Schweiz kann nicht davon profitieren, weil das Neubauverbot immer noch gilt?