- Fotobücher
Welten zwischen zwei Wahlen
«Rezensieren Sie eigentlich noch Fotobücher?», fragten die Hartmanns. Sie hätten etwas, das mich interessieren könnte. Mein täglich Brot sei ja eher Polit-Sachliteratur, meldete ich zurück. Bildbände kämen zuweilen als Dessert hinzu. Immer mit dem Gefühl, ihnen nicht gerecht werden zu können, weil Rezensionen in unseren Buchbeilagen meist nur mit kleinen Cover-Abbildungen illustriert sind.
Verschwundenes Land
Beim ersten, dem ‹schönen› Buch, wäre dies besonders krass, obschon das schlichte Äussere des Leinenbandes von «Ein Dorf» bestens zum Inhalt passt. Es fällt aber auch schwer, aus gut 250 schwarzweissen Bildern, welche Veränderungen in Berka an der Wipper dokumentieren, zwei repräsentative auszuwählen. Ludwig Schirmer, Ute und Werner Mahler, alle aus einer Familie, fotobegeistert, letztere professionell in diesem Metier tätig, haben über sieben Jahrzehnte hinweg den Ort, die Umgebung, vor allem jedoch dort «fast in der Mitte Deutschlands» lebende Menschen in markanten Aufnahmen festgehalten. Mit teils tiefen Brüchen. Denn in Thüringen verschwand nach der politischen Wende von 1989 mit der DDR zuerst ein Heimatland, dann für viele die Arbeit. Immer mehr, vorab Jüngere, zogen weg. Das zeigt sich im Dorfbild. Es wirkt in den letzten Aufnahmen nicht ärmer, eher im Gegenteil, aber seltsam unbelebt, leer.
In mehreren Texten wird das Sichtbare in Worte gefasst. Steffen Mau setzt soziologische Akzente, beschreibt typische Prozesse in «abgehängten Regionen». Die finden zwar auch im Westen statt, dort «allerdings in langsamerer Veränderungsgeschwindigkeit». Schön, literarisch und empathisch, zeichnet Jenny Erpenbeck nach, was zumal aus den älteren Fotografien klingt: «Geräusche. Schweigen. Kreischen. Musik. Rauschen der Blätter. Alles im Bild, wenn man nur genau hinhört.» Bräuche wie der Auftritt des zottig mit Erbsenstroh eingekleideten Bären, der Leute erschreckt und erfreut, werden nochmals lebendig, bevor sie wohl bald ganz entschwinden. Die mit beiden Systemen vertraute Schriftstellerin zeigt, ohne dass sie Nostalgie oder gar Ostalgie zelebriert, dass «das Land, das es nicht mehr gibt», in vielerlei Hinsicht gesellschaftlich lebendigere Beziehungen bot.
‹Wir› gegen die andern
Das ist ein Punkt, der mich mit Blick auf das zweite hier vorzustellende Buch speziell interessierte: Mau beleuchtet «das kollektive Wir», welches in den früheren Bildern einer dörflichen Gemeinschaft zum Ausdruck kommt, an Volksfesten, auf alltäglichen Märkten, in der Nachbarschaft – ein «verwobenes Miteinander», eigentlich nur wenig geprägt vom Gesellschaftssystem. Wobei die Nachkriegszeit mit Kriegsrückkehrern und Geflüchteten durchaus Veränderungen brachte. Zumal die Zwangskollektivierung der DDR-Zeit war «für die dörflich-bäuerliche Existenzweise oft ein brutaler Einschnitt». Optisch fast markantere Spuren hinterliess die Transformation der 1990er-Jahre, deren «Wohlstandsversprechen und Baumarktkultur». In den jüngsten Aufnahmen der nun nicht mehr in Berka lebenden Ute Mahler zeigten sich «die Gegenwart der sozialen Privatisierung, des ostentativen Konsums und einer skeptischen Jugend». Tatsächlich gehören die Porträts einzelner Jugendlicher quer durch die Zeiten zu den eindrücklichsten Bildern. Die frühen strahlen Offenes, manchmal Entschlossenes aus, doch beim Schlussteil notierte ich «etwas Verlorenes». War das gewollt, gar gestellt? Eher ein Zeitzeichen.
Derzeit ist oft von den Abgehängten die Rede, denen neue Feindbilder – städtische Eliten oder ferne Fremde – zu neuem Zusammenhalt verhelfen. Dazu kam das von mir aus dem Internet gefischte Faktum, dass in Sondershausen, wo Berka jetzt «eingemeindet» ist, die AfD als «in Thüringen gesichert rechtsextreme Partei» am 1. September 2024 mit gut 34 Prozent «den Wahlsieg für sich verbuchen konnte». Damit lag die Region, in der das Ende der Kaliförderung zur radikalen Deindustrialisierung führte, über dem Landesdurchschnitt. Im letzten Text der Dokumentation über das deutsche Dorf zieht ein US-Historiker einige Parallelen. Etwa zu Nebraska, wo «die ohnehin kaum lebensfähigen Landstädtchen und Farmen» durch eine tiefe Wirtschaftskrise erschüttert wurden. Fotos von dort hätten «ein Gefühl der inneren Leere» vermittelt und «der Trauer um eine alte, in nächster Zeit aussterbende Lebensweise». Er empfand Ähnliches auch hier.
Kapitalismus & Kannibalismus
Womit ich mit einem Sprung über den Atlantik zum zweiten Buch wechsle: Völlig andere Bilder, quasi tagesaktuell, aufgenommen vor der weltweit als Weichenstellung erwarteten Wahl. Gelten eigentlich die Republikaner in den USA, zumindest Donald Trump, auch als «gesichert rechtsextrem»? In der Fotoreportage von Michael Dressel springt einen dieser Gedanke geradezu an. Alles wirkt laut, überdreht, zudem sexualisiert, oft mit Religiösem verquickt. Immer wieder auch Waffen und massenhaft Flaggen. Abfall, Armut am Rand. Abgehängte gibt’s offensichtlich auch in Zentren. Diese grausliche Bestandesaufnahme stammt von einem, der 1958 in der DDR geboren, später nach einem Fluchtversuch zwei Jahre lang eingesperrt wurde. Vielleicht habe er da «seinen Sinn für Ironie entwickelt», ist in der Nachbemerkung von F. Scott Hess zu lesen, und obwohl Dressel schon mehrere Jahrzehnte in Los Angeles lebt und erfolgreich in der Filmbranche tätig ist, bleibe seine Sicht auf Amerika von einer Aussenseitermentalität geprägt, «einer Fähigkeit, Dinge zu sehen und zu fühlen, die einem Einheimischen oft verborgen bleiben».
Er selbst betont, es sei ein Privileg, in den USA leben und arbeiten zu können, obwohl sich die Gesellschaft verändert habe. Er bezeichnet die Form des Kapitalismus, der nun herrsche, als «Post-Wettbewerbs-Kannibalismus». Mit diesem komme ein Grossteil der Bevölkerung nicht klar. Er biete keine nennenswerte Verbesserung für das Leben der einfachen Leute, aber die Unzufriedenheit werde «von skrupellosen Politikern, Predigern, Medienleuten und anderen Parasiten» genutzt, um das Land zu spalten und damit die Kontrolle zu behalten. Der als Spektakel gezeigte Wahlkampf sei eine «Shit Show voller hasserfüllter Gemeinheit und grotesker Dummheit». Auch da – in einer total anderen Welt mit völlig anders geprägten Menschen – geht der Trend bekanntlich politisch rasant nach rechts. Nicht nur bei einem Drittel, nein, am 5. November könnte es leicht die Mehrheit werden. Vielleicht kommt die Entscheidung erst später, beim anachronistischen Wahlmänner-Theater. Was dann? «The End …»
Literatur
Ute Mahler, Werner Mahler, Ludwig Schirmer: Ein Dorf 1950 – 2022. Hartmann Books, Stuttgart 2024, Bildband-Format 22 × 29 cm, Leinen-Hardcover, 362 Seiten, 252 Abbildungen. Texte von Jenny Erpenbeck, Anja Maier, Steffen Mau und Gary Van Zante, deutsch/englisch, 68 Euro.
Michael Dressel: The End is Near, Here. Text: F. Scott Hess, englisch/deutsch. Hartmann Books, Stuttgart 2024, Bildband-Format 20 × 25 cm, Klappenbroschur mit Wickelcover, 176 Seiten, 104 Abbildungen, 29 Euro.