«Was wir sehen, ist ein klassisches Marktversagen»

Roxane Steiger

 

Eine Volksinitiative linker und Mitte-Parteien will ein Vorkaufsrecht für die Gemeinden einführen. Weshalb es diesen Eingriff in den Immobilienmarkt braucht, erklärt der Stadtpräsident von Schlieren und SP-Kantonsrat Markus Bärtschiger im Gespräch mit Roxane Steiger. 

 

Herr Bärtschiger, die frisch lancierte Ini­tiative eines Komitees aus SP, Grünen, GLP, Mitte, EVP, AL und Wohnbaugenossenschaften Zürich möchte, dass Gemeinden im Kanton Zürich ein Vorkaufsrecht erhalten. Was heisst das genau?

Markus Bärtschiger: Die Initiative möchte preisgünstiges und gemeinnütziges Wohnen sowie Alterswohnungen fördern. Dazu sollen Gemeinden ein Vorkaufsrecht erhalten. Wenn auf dem Wohnungsmarkt Wohnungen unter Privaten verkauft werden, muss das den Gemeinden mitgeteilt werden. Das Vorkaufsrecht erlaubt es dann der Gemeinde, bei Eigentumsübertragungen von Grundstücken den Vorzug vor anderen Käufern zu erhalten. 

 

Wieso braucht es ein solches Vorkaufsrecht?

Dazu reicht ein Blick in die Statistiken: Früher galt die Faustregel, dass zwischen 20 und 30 Prozent des Lohns für die Miete akzeptabel seien. Heute geben die zehn ärmsten Prozent der Bevölkerung 35 Prozent oder mehr ihres Einkommens für die Miete aus. Gleichzeitig geben reichere Haushalte, die ab 10 000 Franken pro Monat zur Verfügung haben, nur noch 10 Prozent ihres Einkommens für die Miete aus. Diese Lücke wird immer grösser. Hinzu kommt, dass schlechte Wohnsituationen die allgemeinen Rahmenbedingungen für Betroffene verschlechtern. Häusliche Gewalt oder schlechte Lernsituationen für Kinder sind exemplarische Folgen, die auch für den Staat zu höheren sozialen Kosten führen. Dagegen müssen wir etwas unternehmen. Aber es geht hier nicht ausschliesslich um den sozialen Wohnungsbau, wie man meinen könnte. Die geschilderte Situation wird immer mehr auch für den Durchschnittsbürger zum Problem. Das Vorkaufsrecht zur Förderung von preisgünstigem Wohnraum ist dabei eine von vielen Massnahmen, die zur Problemlösung beiträgt. 

 

Sie sprechen von steigenden Preisen auf dem Immobilienmarkt. Wie ist diese Entwicklung zu erklären? 

Die Entwicklungen auf dem Immobilienmarkt sind insbesondere ein urbanes Problem, das Agglomerationen wie auch Kernstädte betrifft. Die Städte müssen einerseits wachsen. Das führt dazu, dass man alte Häuser saniert oder abbricht, um für neue Häuser Platz zu schaffen. Zudem ist die Verdichtung oft auch mit Quartieraufwertungsmassnahmen verbunden, die tendenziell ebenfalls zu Verdrängung führen, besonders von sozial schwächeren und älteren Menschen. Andererseits werden derzeit nur wenige günstige Wohnungen geschaffen, und viele Menschen drängen sich auf den Immobilienmarkt. Es ist logisch, dass angesichts dieser Entwicklungen Angebot und Nachfrage auseinanderfallen. 

 

Sie wollen also, dass Gemeinden einfacher Grundstücke erwerben können. Was sind denn konkret die Probleme, die Gemeinden benachteiligen, diese zu erwerben?

Zum einen fehlt immer das Geld. Aber auch wenn man das Geld hat, fehlen oft die Informationen. Viele Private denken beim Verkauf zuletzt an die Gemeinden, da sie der Meinung sind, es sei kompliziert, Wohnungen an die Gemeinden zu verkaufen. Zugegeben: Bei Parlamentsgemeinden wie Schlieren ist es ab einer gewissen Summe ein komplizierter und langwieriger Prozess. Ein solcher Kauf braucht die Bestätigung des Parlaments oder des Volkes. Eine weitere Befürchtung ist, dass Gemeinden nicht so viel zahlen können wie Private. Deshalb kommen Private oft nicht auf die Idee, den Gemeinden ein Angebot zu machen. Gerade dieses Problem soll mit dem Vorkaufsrecht angegangen werden.

 

Welche Grundstücke wären genau vom Vorkaufsrecht betroffen?

Es geht um Grundstücke in Bauzonen, die zur Wohnnutzung vorgesehen sind. Es geht nicht um Bürogebäude oder Industrieanlagen und auch nicht darum, dass Gemeinden mit diesem Vorkaufsrecht Grundstücke für Schulen oder Werkanlagen erwerben. Es geht ausschliesslich um gemeinnützigen und preisgünstigen Wohnungsbau sowie um Alterswohnungen. 

 

Wieso sind Alterswohnungen spezifisch inbegriffen?

Die mangelnde Versorgung mit Wohnraum für ältere Menschen ist in vielen Gemeinden ein akutes Problem. Ältere Menschen wohnen oft schon seit längerer Zeit in ihren Wohnungen und haben deshalb einen tieferen Mietzins. Wenn sie aus ihrer Wohnung raus müssen, können sie den Mietzins nicht mehr zahlen. Folglich geraten sie entweder in schlechtere Wohnsituationen oder wohnen in nicht altersgerechten Wohnungen. Das führt dazu, dass sie vorschnell in eine Alterseinrichtung ziehen müssen, was wiederum zu höheren sozialen Kosten führt. 

 

Der Erwerb von Liegenschaften ist für Gemeinden bestimmt sehr teuer. Wie soll das Vorkaufsrecht finanziert werden? 

Auf diese Frage gibt es eine praktische und eine theoretische Antwort. Die praktische ist: aus Steuersubstraten, aus Grundstückgewinnsteuern oder dem Mehrwertausgleich. Uns ist aber schon bewusst, dass die Fonds des Mehrwertausgleichs momentan noch sehr klein sind. Die Grundstückgewinnsteuer wird heutzutage gebraucht, um das Steuersubstrat aufzubessern, weil das normale Steuersub­strat nicht ausreicht. Die theoretische Antwort ist, dass die zunehmend schlechte Wohnsituation der Menschen zu höheren sozialen Kosten führt, die man heute einfach woanders zahlt. Das Geld ist somit heute schon da! Nicht zu vergessen sind Beispiele wie in London, wo Menschen jeden Tag einen langen Arbeitsweg auf sich nehmen müssen, um in der Stadt zu arbeiten. Sie kommen entweder schon erschöpft zur Arbeit, erbringen schlechtere Leistungen, oder ihre Stellen bleiben unbesetzt. Das hat auch ökonomische Probleme zur Folge. 

 

Das Vorkaufsrecht ist keineswegs eine Neuheit. Verschiedene Kantone kennen bereits ähnliche Instrumente. Auch auf Bundesebene kennt man bereits ein Vorkaufsrecht. Welche Erfahrungen wurden da gemacht? 

Das berühmteste Beispiel ist Lausanne. Dank dem Vorkaufsrecht haben sie für 38 Millionen Franken Wohnungen gekauft und somit preisgünstigen und gemeinnützigen Wohnraum geschaffen. Dieses Beispiel zeigt: es funktioniert. 

 

Der Hauseigentümerverband ist der Ansicht, dass Sie mit staatlichen Interventionen in den Immobilienmarkt die Grundstückspreise für Privatpersonen erst recht in die Höhe treiben würden. Beziehungsweise, wenn Gemeinden zum Marktpreis kaufen müssen, fördern sie damit nicht die Spekulation? 

Sie müssen diese Märkte immer kurz- und langfristig betrachten. Ja, kurzfristig kann ein Eingriff zu Verwerfungen auf dem Markt führen. Langfristig ist die Einführung eines Vorkaufsrechts eine dämpfende Massnahme.  

 

Könnte die Vertragspartei nicht versucht sein, im Kaufvertrag zum Nachteil des Gemeinwesens einen künstlich erhöhten Preis festzulegen?

Ja, natürlich können sie zu überhöhten Preisen anbieten. Die Gemeinden sind aber nicht blöd und wissen auch, was für Preise auf dem Immobilienmarkt bezahlt werden. Bei einem Kaufentscheid würden sie sich entsprechende Überlegungen machen. Nicht jeder Verkäufer handelt anständig, aber auf jedem Markt gibt es schliesslich auch anständige Anbieter. 

 

Normalerweise bewerben StadträtInnen keine Volksinitiativen. Wieso unterstützen so viele Exe­kutivmitglieder, teilweise auch aus dem bürgerlichen Lager, diese Initiative? 

Wenn sie das Sorgenbarometer der Bevölkerung anschauen, so sehen sie, dass die Mietpreise viele Menschen beschäftigt, insbesondere im Speckgürtel von Zürich. Die Menschen bemerken, dass sie, sobald sie aus ihrer Wohnung raus müssen, es sich nicht mehr leisten können, in Agglomerationsgemeinden wie Schlieren zu wohnen. Sie müssen teilweise weit wegziehen, bis in den Thurgau oder in den Aargau. Das können und möchten sie nicht. Sie arbeiten hier, haben hier ihr soziales Umfeld oder ihre Kinder gehen hier zur Schule. 

 

Im Kantonsrat ist vor drei Wochen eine parlamentarische Initiative zum Vorkaufsrecht für Liegenschaften des Kantons gescheitert. Hat diese Initiative eine Chance?

Ich bin damals am Mikrofon gestanden und habe versucht, die Situation in den Gemeinden aufzuzeigen. Im Kantonsrat hatte die leicht andersgeartete Initiative keine Chance, aber ich denke, dass die Bevölkerung da korrigierend einwirken kann. Die Bevölkerung kann den KantonsrätInnen aufzeigen, dass das ein wichtiges Thema für sie ist. Der Kantonsrat weiss, wie die Instrumente einzusetzen sind und sieht auch, dass das Instrument nicht das einfachste ist. Es ist aber trotzdem eines der wenigen Instrumente, das existiert und das man deshalb auch nehmen muss.

 

Welche Rolle spielen Genossenschaften bei dieser Initiative? Inwiefern würden sie profitieren und welche Rolle spielen sie in Städten wie Schlieren? 

Genossenschaften sind historisch gesehen in industriell geprägten Umgebungen sehr stark. Schlieren war sehr stark indus­triell geprägt. Deshalb könnte man vermuten, dass Genossenschaften in Schlieren gross vertreten sind. Wir haben Genossenschaften, aber erstaunlicherweise viele Genossenschaften, die aus Zürich stammen. Es gibt wenige Schlieremer Genossenschaften, die gross geworden sind. Das hat diverse historische Gründe. In Schlieren ist der genossenschaftliche Anteil, der gemeinnützige und preisgünstige Wohnungen bereitstellt, entsprechend gering. Dabei sind Genossenschaften oft prädestiniert dafür, um preisgünstigen Wohnraum zu schaffen. Das liegt daran, dass sie ihren Gewinn nicht an AktionärInnen auszahlen, sondern in die Genossenschaft investieren – im Gegensatz zu Aktiengesellschaften. 

 

Was hat der Staat sonst noch für Möglichkeiten, um preisgünstigen Wohnraum zu schaffen? 

Der Immobilienmarkt ist immer mehr verzerrt. Im Kanton Zürich zahlt man in den letzten 20 Jahren rund 40 Prozent mehr Miete. Dass das langfristig nicht gut kommt, müsste jeder erkennen. Was wir sehen, ist ein klassisches Marktversagen. Der Staat hat nicht viele Möglichkeiten, um in den Markt einzugreifen. Ich sage das bewusst: Es ist ein Markteingriff, da haben die Gegner recht. Planerische und rechtliche Vorgaben können ein solcher Eingriff sein. In der Bau- und Zonenordnung der Gemeinden könnte der Paragraph 49b des kantonalen Planungs- und Baugesetzes Anwendung finden. Es müssten Zonen definiert werden, wo man preisgünstigen Wohnraum schaffen muss. Diese Zonen können dann ausgeschieden werden, wenn sie planerische Gewinne enthalten, also zum Beispiel, wenn es eine Zonenänderung mit neu einer höheren Ausnutzung gibt, oder bei Gestaltungsplänen, die eine Aufwertung des Landes zur Folge haben.

Bezüglich Gestaltungsplänen hat die Stadt Schlieren Verträge mit den entsprechenden Investoren abgeschlossen, zum Beispiel für Alterswohnungen. Weitere Markteingriffe sind denkbar, erwähnenswert ist sicherlich die direkte Förderung von gemeinnützigen Bauträgern. Gesamthaft lässt sich aber sagen, dass die Eingriffsmöglichkeiten auf Ebene der Gemeinde derzeit sehr klein sind. Die Politik macht auf Ebene Kanton und Bund meiner Meinung nach zu wenig. 

 

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