Was wir Jugendlichen zumuten
Anahí Frank
Die Situation von unbegleiteten Kindern im Asylwesen ist schon lange prekär. Nun hat Gemeinderat Walter Angst bekannt gemacht, dass der Bund 16-Jährigen einen Teil ihres Status als Jugendliche aberkennt.
Seit ich in der Schweiz bin, weiss ich, dass man eine Kindheit haben darf.» Mit diesen Worten wird ein 16-jähriger geflüchteter Junge aus Guinea auf der Website der Zentralstelle für minderjährige Asylsuchende (MNA) zitiert. Für einige junge Geflüchtete mag die Schweiz ein sicherer Hafen sein, in dem sie ihre Kindheit leben können. Doch einige unbegleitet geflüchtete Minderjährige im Kanton Zürich will der Bund nicht mehr als Kinder anerkennen. «Seit einigen Wochen kategorisiert der Bund 16-jährige asylsuchende Minderjährige als sogenannte «Selbstständige, unbegleitete, minderjährige Asylsuchende», kurz SUMA, erklärt Walter Angst, Gemeinderat der AL, auf Anfrage. Ähnliches hatte er auch vergangene Woche vor dem Zürcher Stadtparlament enthüllt, als dieses darüber debattierte, ob weiterhin ein Begegnungsraum für den Austausch von Geflüchteten und der Quartierbevölkerung Wipkingen finanziert werden sollte. Mit seiner Bemerkung hatte Angst darauf aufmerksam gemacht, in welcher prekären Lage sich viele geflüchtete Jugendliche zurzeit befinden. Durch die neue Einstufung als SUMA würden die betroffenen Jugendlichen das Recht auf eine Bezugsperson verlieren, die sie unterstützt. Zudem würden sie in eine Wohnsituation gezwungen, die nicht für Kinder und Jugendliche geeignet ist.
«Die als SUMA klassifizierten Jugendlichen leben auf engstem Raum, und das, obwohl sie als Minderjährige die gleichen Rechte haben wie alle anderen Jugendlichen.» Dazu kommt, dass gemäss einer deutschen Studie 20 Prozent der geflüchteten Kinder unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Durch die massiv verschlechterten Bedingungen während den ersten 140 Tagen nach ihrer Ankunft in der Schweiz würden unbegleitete Minderjährige nicht dabei unterstützt, die traumatischen Erfahrungen der Flucht zu verarbeiten, meint Angst. «Wenn wir den Jugendlichen die ihnen zustehende Unterstützung verweigern, legen wir ihnen neue Hürden in den Weg», betont Angst. Zum Schutz von minderjährigen Geflüchteten gilt die von der Schweiz ratifizierte UNO-Kinderrechtskonvention. Doch Angst zweifelt daran, dass die Kinderrechtskonvention im Fall der SUMA erfüllt wird: «Wir muten allein geflüchteten Minderjährigen etwas zu, was wir Schweizer Jugendlichen nie antun würden.» Es stelle sich die Frage, ob man die Schweiz wegen der anhaltenden Verletzung der UNO-Kinderrechtskonvention nicht verklagen müsse.
Zu wenig Betreuung, zu wenig Raum
Doch auch bisher war das Wohl von geflüchteten Kindern und Jugendlichen alles andere als gewährleistet. Im Sommer 2022 wandten sich mehrere ehemalige MitarbeiterInnen des MNA-Zentrum Lilienberg an verschiedene Zeitungen, um die katastrophalen Zustände innerhalb des Asylzentrums zu enthüllen. Aus Platzmangel waren die jungen Menschen gezwungen, sich mit bis zu drei anderen ein kleines Zimmer zu teilen, berichtete ‹Das Lamm›. Entsprechend seien die Emotionen hochgekocht, doch pädagogische oder psychologische Fachkräfte wären nicht genug da gewesen, um den Jugendlichen bei zwischenmenschlichen und individuellen Problemen zur Seite zu stehen. Die Zentrumsleitung hätte die Probleme nicht nur nicht gelöst, sondern auch vertuscht, so der Vorwurf der ehemaligen MitarbeiterInnen. Eine unabhängige Betriebsprüfung im Auftrag des kantonalen Sozialamtes hat die «soziale und pädagogische Situation» im MNA-Zentrum Lilienberg als besorgniserregend beschrieben und die Kritik so weitgehend bestätigt. Um die Belegung von 90 auf 60 Jugendliche reduzieren zu können, will die Asylorganisation Zürich AOZ nun zwei zusätzliche Wohngruppen bauen und zusammen mit der Stadt Zürich weitere 50 Wohnplätze bereitstellen. Doch wegen vielen Neuankommenden geht die AOZ nach eigenen Angaben nicht davon aus, die Reduktion auf 60 vor Mitte 2023 erreichen zu können. Um mehr Platz zu schaffen, soll der gesamte Unterricht nicht mehr im Zentrum selbst, sondern im Oberstufenschulhaus von Affoltern am Albis stattfinden. Wie sie das Betreuungsproblem lösen wird, gibt die AOZ allerdings nicht genau an.
Die Situation im MNA-Zentrum Lilienberg zeigt auch auf, wieso der Bund möglicherweise Minderjährige wie Erwachsene behandeln will: um Ressourcen zu sparen. Denn es fehlt vor allem an Platz und Arbeitskräften. Dieser Mangel ist auch Thema einer Pressekonferenz zum Stand der Dinge im Asylwesen des Kantons Zürich. «In den Gemeinden nähern wir uns der Belastungsgrenze», meint Jörg Kündig, Präsident des Gemeindepräsidien-Verbands des Kantons Zürich. «Die Verlängerung des Schutzstatus S bedeutet, dass wir uns auf Integration statt vorläufige Unterbringung auslegen müssen.» Dabei blieben die Wohnräume besetzt und die Betreuung knapp. Als Ausweichmöglichkeit könnte eine Turnhalle umgebaut oder neue Container errichtet werden. Zivilschutzanlagen wären eine letzte Alternative. Doch trotz der angespannten Situation will der Bund die Globalpauschale für Personen mit Status S ab 2023 reduzieren. Die Reduktion würde die Gemeinde aber zusätzlich belasten und sei «das falsche Signal», finden sowohl Kündig wie auch Sicherheitsdirektor Mario Fehr.
Unzufrieden mit dem Bund ist Fehr auch, weil dieser vom normalen Verfahren abgekommen sei und dem Kanton «asylsuchende Personen» im offenen Verfahren forciert zugewiesen habe. Vorgesehen sei eigentlich, dass der Bund ein Grossteil der Fälle innerhalb von etwa vier Monaten im Bundesasylzentrum bearbeiten würde. Doch Fehr zeigt sich überzeugt, dass der Bund zum üblichen Muster übergehen wird: «Der Bund hat die Rückkehr zum normalen Verfahren ab Mitte Dezember kommuniziert. Und wir haben gute Indizien dafür, dass der Bund seine Kapazitäten ausbauen wird.»
Fehr und Kündig fordern von diesem Kapazitätenausbau, dass auch das Personal aufgestockt wird. Das könnte beispielsweise durch eine Umverteilung von Zivildienstleistenden oder einem subsidiären Armeeeinsatz geschehen. Auch hier scheint Fehr sicher, dass zumindest Letzteres bereits geplant ist.
Doch bei aller Kritik am Bund sprechen Sicherheitsdirektor Fehr und Gemeindepräsidienverbandspräsident Kündig die Situation der unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden nicht an. Angst würde sich aber über ein entschiedenes Auftreten freuen. «Stadt und Kanton sollten das Staatssekretariat für Migration gemeinsam auf seine Verantwortung aufmerksam machen – auch öffentlich», so Angst.
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