Was macht Schule nach dem Virus?

Seit dieser Woche rollt der Schulbetrieb in Kindergärten und Primar- und Sekundarschulen der Stufe 1 wieder an. Der wichtige Schritt in Richtung Normalität birgt Risiken und Nebenwirkungen, denn die behördlichen Regeln sind nicht immer einhaltbar.

 

Anatole Fleck

 

Während der Verzicht auf Maturitätsprüfungen im Kanton Zürich in Windeseile zum Politikum wurde (siehe P.S. vom 8.5), sind seit dieser Woche die KindergärtlerInnen und SchülerInnen der Primar- und Sekundarstufe 1 wieder zurück in den Klassenzimmern. Nach acht Wochen des Homeschooling dürften viele Eltern und SchülerInnen aufgeatmet haben – wohl selten wurde ein Schulbeginn so herbeigesehnt wie dieser. Es bleibt die Frage: Wie sind die zahlreichen Hausaufgaben, von Bund und Bildungsdirektion des Kantons an die Lehrpersonen, umzusetzen? Thomas Minder, immerhin oberster Schulleiter der Schweiz, sah schon just nach der bundesrätlichen Verkündung ein gewichtiges Problem: «Es ist nicht machbar, dass jüngere Schülerinnen und Schüler keinen körperlichen Kontakt untereinander haben.» Das nationale Schutzkonzept definiert bezüglich Abständen etwas ungenau: «Das Miteinander der Kinder im schulischen Setting wird nicht als enger Kontakt definiert.» Dennoch sollen Lehrpersonen zueinander und – wo immer möglich – zu den SchülerInnen einen Mindestabstand von zwei Metern einhalten. 

 

Ob diese Vorgabe in der Praxis umsetzbar ist? Leonie Müller, Primarschullehrerin an der Schule Hirschengraben-Schanzengraben in Zürich, befindet: «Diese Massnahmen klingen gut, sind aber in der Realität schlicht nicht immer umsetzbar. Im Schulhaus haben wir von engagierten gestalterischen Lehrpersonen Plexiglasscheiben für unser Lehrerpult angefertigt bekommen. Das hilft, aber da der Unterricht nicht einfach aus stumpfem Frontalunterricht besteht, ist es schwierig, den Abstand immer einzuhalten.» Davon abgesehen wüssten die wenigsten Kinder, wie lange zwei Meter überhaupt sind, noch könnten sie dies gut abschätzen. Müller versucht zwar, wo immer möglich nach Plan vorzugehen, sieht ihre Hauptaufgabe aber im Unterrichten «und nicht im permanenten Durchsetzen der Massnahmen.» 

Auch Thomas Minder hält die lückenlose Durchsetzung für unmöglich. Als Präsident des SchulleiterInnenverbandes hätte er sich aber «klare und einheitliche Vorgaben für alle Kantone» gewünscht. Tatsächlich liess der Bund im Konzept vieles frei – beziehungsweise überliess es den Kantonen. Bundesrätin Sommaruga vermerkte vor den Medien bereits, der Bundesrat könne «Nicht jedes Detail regeln.» Die Bildungsdirektion des Kantons Zürich handelte immerhin rasch: Weniger als 24 Stunden nach der Mitteilung des Bundesrates, konnte sie bereits ihr eigenes Schutzkonzept präsentieren – und darin die schrittweise Öffnung der Kindergärten, Primar- und Sekundarschulen in Richtung Normalbetrieb näher definieren. 

 

Fehlende Einheitlichkeit

 

Der Unterricht wird nun vier Wochen lang in kleinen Gruppen und abwechslungsweise an Halbtagen stattfinden – Klassen mit mehr als 15 SchülerInnen werden geteilt, das Gleiche gilt für Hortangebote. Es steht den Gemeinden ebenfalls weiterhin offen, ihr Betreuungsangebot zu beschränken (siehe auch Seite 11). Für Jan Michel, Klassenlehrer an der Primarschule Buchs, ist die Klassenteilung kurzfristig auch ein Vorteil: «So können wir als Team mit wenigen Schülerinnen und Schülern in den nächsten vier Wochen viel erreichen und Versäumtes aufholen.» Man gebe sich darüber hinaus natürlich grösste Mühe, im Klassenzimmer die Tische zu desinfizieren und beim Eintreten und Verlassen der Zimmer die Hände zu waschen. Und Plexiglaswände kennt auch die Schule Buchs: Die älteren Lehrpersonen oder Lehrpersonen mit Partner in der Risikogruppe hätten sich eine besorgt. «Man wird kreativ», so Michel. 

 

Für Leonie Müller werfen die Unterschiede zwischen Kantonen, welche die Schulen wieder im «normalen» Betrieb öffnen, und dem Kanton Zürich, der Halbklassenunterricht verlange, Fragen auf: «Mir ist bewusst, dass es keine einheitliche Lösung für alle Schulen der Schweiz gibt, aber zumindest in diesem Punkt verstehe ich die unterschiedliche Umsetzung nicht.» Damit ist sie nicht alleine: In einer vom SP-Fraktionschef Markus Späth im Rat verlesenen, gemeinsamen Fraktionserklärung hatten KantonsrätInnen der fünf Fraktionen SP, SVP, FDP, GLP und AL der von Regierungsrätin Silvia Steiner (CVP) präsidierten Erziehungsdirektorenkonferenz der Kantone (EDK) mehr oder minder Versagen vorgeworfen (siehe P.S. vom 8.5). Auch sie kritisierten: «Dass die Volksschule nur mit Halbklassen starten soll, erscheint uns nicht durchdacht und kaum praktikabel.»

 

Es soll weitergehen

 

Im Flickenteppich zwischen Bundes- und Kantonsvorschriften scheinen in jedem Fall pragmatische Lösungen und Augenmass gefragt. Denn ob man die Öffnung der Schulen zu diesem Zeitpunkt und in dieser Form begrüsst oder nicht: Sie ist Realität geworden. 

Die Lehrerinnen und Lehrer und ihre SchülerInnnen stehen somit  am Anfang einer komplizierten Aufgabe – und eine solche war bereits die schulische Arbeit während dem Lockdown: «Der Beruf lebt von der direkten Zusammenarbeit mit den Kindern», so Primarlehrerin Leonie Müller. Im eingerichteten «Online-Klassenzimmer» habe die Lehrerschaft über Chatfunktionen, Videokonferenzen und Dokumentaustausch die Kinder zwar relativ nahe beim Lernen begleiten können, «doch war ein Kind weder online noch telefonisch erreichbar, waren wir bald relativ hilflos». So könne es auch geschehen, dass einige Kinder sich dem Unterricht mehrheitlich entziehen. 

 

Die Umstellung auf Homeschooling ist für alle Beiteiligten eine Herausforderung: Wie rasch sich die Lehrpersonen bei uns reorganisiert haben, hat mich sehr beeindruckt», so Jan Michel. Auch die Kinder seien anfangs sehr eifrig und motiviert gewesen – vielleicht auch weil der Lockdown sich für sie wie «eine «Befreiung aus dem immergleichen Schulalltag anfühlte». Bald aber überwogen die Ermüdungserscheinungen. Nicht nur lerntechnisch begrüssen die beiden Lehrpersonen die Wiederaufnahme des Schulbetriebs: «Die Schule ist nicht nur eine Lehrstätte», benennt es Jan Michel. Die Freude der SchülerInnen über den Start gründe teilweise natürlich weniger im Unterrichtsinhalt, doch die soziale Komponente sollte für alle Beteiligten sowieso nicht unter Wert geschätzt werden. Leonie Müller nutzte den ersten Tag in beiden Halbklassen ausschliesslich zum Austausch: «Die anfängliche Anspannung und Nervosität auf beiden Seiten legte sich recht rasch und die Kinder hatten ein riesiges Bedürfnis sich mitzuteilen.» Ein gelungener Start? Die Präsidentin des Dachverbandes Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) sprach am Montag gegenüber Radio SRF immerhin von einem solchen. Einen Normalbetrieb könne man konsequenterweise noch nicht erwarten, so Rösler. Doch er hat bereits ein Datum: Am 8. Juni sollen die Tore der Maturitäts- und Berufsschulen wieder öffnen und somit die Kinder der Sekundarstufe 2 ebenfalls wieder zur Schule gehen.

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