«Was im Moment ein Elend ist, kann sich später zum Guten wenden»

Aufgezeichnet von Zara Zatti

 

Ich treffe Hans Städeli im Café Lang am Limmatplatz. «Mit 88 kann man auf die Welt zurückschauen» sagt er, und erklärt mir, wie Zürich in seiner Kindheit ausgesehen hat. Im Kreis 5 habe sich an der Bausubstanz wenig verändert, Erinnerungen flackern beim Durchgehen der Strassen auf: So etwa, wie er mit Freunden während der Kriegszeit stundenlang Fussball auf der menschen- und autoleeren Fabrikstrasse gespielt habe. Kaum wiederzuerkennen sei hingegen Zürich-West: «Wo die jungen Leute heute in den Ausgang gehen, waren früher Bauernhöfe und Familiengärten.» Einen solchen Garten mit vier Geissen, Hühnern und Kaninchen besass auch die Familie von Hans Städeli. Nachdem der Vater nach der Finanzkrise von 1929 seine Arbeit verlor, verbrachte dieser viel Zeit dort. «Dass er die Aufgabe als Familienernährer nicht mehr erfüllen konnte, hat ihn schwer getroffen.» Hans Städeli wurde 1930 geboren. Da der Vater seine Stelle verlor, war es die Mutter, die arbeiten gehen musste: «Sie schmiss den Laden.» Wie er aufgewachsen ist, habe ihn sein Leben lang geprägt: «Das Elternhaus ist ein Erlebnis, welches für das ganze Leben bleibt.» Da er künstlerisch begabt war, begann er 1946 eine Lehre als Holzbildhauer, die er 1950 beendete. Bereits am ersten Tag nach der Lehre bricht er per Autostopp nach Frankreich auf, um dort die französische Kultur, Romanik, Gotik und die moderne Kunst mit eigenen Augen zu sehen.

 

Der Weg zur Expo 1964 in Lausanne
Ein Jahr blieb er in Frankreich. Nach seiner Rückkehr nach Zürich arbeitete er auf dem Bau, da der Beruf des Holzbildhauers ein Auslaufmodell war. Schon während der Lehre war er dem «Wandervogel» beigetreten, eine autonome Jugendbewegung, die ihren Ursprung in Deutschland hatte. Die meisten Mitglieder waren Steiner-Schüler. Es wurde Klavier gespielt und sich gegenseitig vorgelesen: «Ich kam in ein völlig neues Milieu.» Durch einen Studenten der Bewegung gelangte Städeli als Bühnenarbeiter ans Schauspielhaus Zürich, wo er das Geld verdiente, um nebenher Marionetten zu gestalten und zu spielen. Seine Frau, eine Freundin und er bildeten eine Puppenspielgruppe und zogen in der Schweiz umher. In der Direktion des Schauspielhauses hörte man von seiner Arbeit, und so wurde Städeli als Bühnenbildner- und maler ans Stadttheater Luzern empfohlen, später wechselte er nach Bern: «Ich habe keine Schule besucht, aber sofort gemerkt, wie der Karren läuft.» Des Öfteren kam Max von Mühlelen, ein Berner Kunstmaler, im Malsaal des Stadttheaters vorbei und schaute Hans Städeli beim Malen der bis zu 30 Meter langen Bilder zu. Er war so begeistert, dass er ihn anfragte, eine Ausstellungshalle für die Expo in Lausanne zu gestalten. Städeli nahm an, nicht ohne Folgen: «Jetzt trat ein riesiges Dilemma auf, denn nebst dem Malen und dem Bühnenbildnern kam auch noch diese Arbeit auf mich zu.» Als der Direktor von der verbotenen Nebenarbeit erfuhr, drückte dieser zwar die Begeisterung für die Halle aus, legte ihm aber dennoch die Kündigung auf den Tisch. «Was im Moment ein Elend ist, kann sich später zum Guten wenden», greift Städeli vor. Denn sein Pavillon stiess auch beim Direktor der Schule für Gestaltung in Zürich auf Begeisterung und führte zu einer Anstellung als Lehrer. 26 Jahre hat er Unterricht am Werkseminar erteilt: «Das Unterrichten war meine Passion.» Kurz nachdem er angefangen hatte, Schule zu geben, zog Hans Städeli zusammen mit seiner Frau und seinen Kindern in ein Bauernhaus in Altstetten. Von da an war sein Leben völlig anders, er konnte es ruhiger angehen und musste nicht mehr in die Nächte hineinarbeiten. «Die Kündigung war schliesslich ein Segen.»

 

Durch Erfahrung verstehen lernen
Politische Zusammenhänge begann Hans Städeli durch das Beobachten seines Umfeldes zu verstehen. «Mein politisches Bewusstsein bildete sich durch Erfahrung, nicht durch das Studium von Büchern.» Im Arbeiterschwimmclub, dem er im Alter von 15 Jahren beitrat, kam er in Kontakt mit «Sozis» und «Gewerkschaftlern», wie er erzählt: «Dort habe ich zum ersten Mal gehört, was das ist.» Auch die Arbeit am Schauspielhaus war wichtig: «Ich hörte, was die ‹Büezer› erzählten, das hat mich beeinflusst.» In diesem Umfeld kam er 1968 in die Zürcher Jugendunruhen und war beim Zürcher-Manifest dabei: «Ich kam von der Theater- und Handwerkerwelt in die Troubles der 68er.» Danach wollte er sich weiterhin politisch engagieren und trat in die SP, genauer in die SP 9 ein: «Es war eine Kettenreaktion.» Die SP 9 war eher gewerkschaftlich orientiert, was Hans Städeli gefiel. «Wir waren nicht die grossen Revolutionäre», erzählt er. Sein Engagement in der Partei war weiterhin künstlerisch und kreativ geprägt: Für die Agitation, in der er zwölf Jahre tätig war, zeichnete er Flyer für Abstimmungen und versuchte, die Menschen mit witzigen Aktionen zu begeistern, um so ein positives Bild der Partei zu gestalten: «Man muss die Menschen gewinnen, nicht abstossen».
Bis vor kurzem organisierte der heute 88-Jährige Aktionen mit der SP 60+. Vor 20 Jahren hat er ausserdem angefangen zu schrei­ben, dieses Jahr soll sein siebtes Büchlein mit Alltagsgeschichten erscheinen. «Das Schreiben ist ein Prozess, plötzlich kommt mir eine Idee und ich beginne zu schreiben, durch das Schreiben wird die Idee verifiziert oder verworfen.» Auf die Frage, wo es ihm nach 88 Jahren in dieser Stadt am besten gefalle, antwortet er, man finde ihn überall dort, wo es guten Kaffee und Zeitungen gibt, etwa im «La Stanza» beim Paradeplatz. Entdeckt habe er das Kaffeetrinken in Italien. Dort liess er sich vor und nach seiner Pension rasieren und die Haare schneiden, jedes Mal in einer anderen Stadt.

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