Meyers Schreibtisch im Conrad Ferdinand Meyer-Haus in Kilchberg. (Bild: Peter Kamber)

Warum Conrad Ferdinand Meyers vielleicht wichtigstes Romanprojekt unvollendet blieb

Besuch bei Elisabeth Lott-Büttiker im C. F. Meyer-Haus Kilchberg

Als Conrad Ferdinand Meyer vor gut hundertfünfzig Jahren einen grossen Roman über die Zürcher Reformation plante, wählte er einen aufrührerischen jungen Mann als Nebenfigur – niemand anders als Conrad Grebel, Sohn eines hochgestellten Ratsherren, der in der Zürcher Regierung für Aussenpolitik zuständig war.

Den Kopf voller Flausen und zunächst ganz der Dichtung zugetan, wurde der junge Grebel nach unabgeschlossenem Studium in Wien und Paris ein pazifistisch-religiöser Umstürzler. Gejagt von der Zürcher Obrigkeit, predigte er als Laie mit Gleichgesinnten, als die Zürcher Bauern sich erhoben, Klöster besetzten und die Aufhebung der Leibeigenschaft forderten.

Bis auf ein Fragment blieb Conrad Ferdinand Meyers Idee unverwirklicht. Die Schwester Betsy erinnerte sich nach seinem Tod, dass er den «Wiedertäufer Grebel» bewusst als «Kontrastfigur» zu Zwingli «suchte».1Dabei wollte er sich aber die dichterische Freiheit nehmen, den jungen Grebel – der in Wirklichkeit 1526 im Alter von 28 Jahren der Pest erlag – nicht sterben zu lassen, sondern nach Jahren der Läuterung in der Ferne wieder nach Zürich zu Zwingli zurückkehren zu lassen.

1877 liess er seinen Verleger wissen, er hoffe, in diesem Roman «das theologische Streitigkeiten [A]nlangende (…) völlig überwinden zu können und überall nur das Menschliche, zu allen Zeiten Gültige herauszukriegen».2

Als Hauptfigur des Romans war denn auch ein heute vergessener, gemässigter Weggefährte Zwinglis gedacht, der Leiter des Ritterhauses Küsnacht, Komtur Konrad Schmid, der das Neue der Reformation zwar begrüsst, «aber das Recht über alles stellt», wie es Adolf Frey in seiner 1916 erschienenen Schrift über «Conrad Ferdinand Meyers unvollendeten Prosadichtungen» schreibt.3

Im März 2025, kurz vor Erscheinen meines Romans über Conrad Grebel, suchte ich die Germanistin Elisabeth Lott auf, um sie als Leiterin des C. F. Meyer-Hauses und als Autorin einer monumentalen Bildbiografie Meyers4 zu befragen, wa­rum denn genau der bekannte Dichter dieses wichtige Werk unvollendet liess.

Aus einer Fülle von Gründen. Erstens war ihm einer mit dem Thema Täufer und Täuferinnen schlicht zuvorgekommen: Gottfried Keller nämlich, in seiner fünften Zürcher Novelle Ursula,1877. Elisabeth Lott erklärt, dass Meyer und Keller «sich gegenseitig zwar geschätzt haben, aber auch argwöhnisch verfolgten, was der andere macht. Sie wollten einander nicht ins Gehege kommen.»

«Und in der Tat kreuzen sich da zwei auf demselben Terrain», schreibt auch Philipp Theisohn in seiner Conrad-Ferdinand-Meyer-Biografie «Schatten eines Jahrhunderts».5 Obwohl beide Zürcher waren, schien Gottfried Keller auch das «Gefühl» zu haben, «Zürich sei doch sein Revier», sagt Elisabeth Lott. Allerdings liess Keller in Ursula einiges über Zwingli weg, weil er durch einen gemeinsamen Bekannten gehört hatte, in Meyers Roman sei Zwingli «ein ansehnlicher Platz zugedacht».6

Conrad Ferdinand Meyer 1895, anonyme Photographie (©Conrad Ferdinand Meyer-Haus Kilchberg)

Umgekehrt ist bekannt, dass der um sechs Jahre jüngere Meyer, der aus der Zürcher Oberschicht stammte, den in einfacheren Verhältnissen aufgewachsenen Gottfried Keller stets zu belehren versuchte: «Es ist schade um Ihre Gabe des Stiles! Sie verschwenden ihn an niedrige Stoffe, an allerlei Lumpenvolk! Ich arbeite nur mit der Historie, kann nur Könige, Feldherren und Helden brauchen! Danach sollten Sie streben!»7

Meyer, der Keller um acht Jahre überlebte, besuchte den Schriftstellerkollegen auch am Krankenbett, erklärte aber nach Kellers Tod in einem Brief, «dass er und ich uns nicht nahe standen» – «ein Ehrlichkeitsbedürfnis» gebiete ihm, das «niederzulegen».8

Festzustehen scheint immerhin, dass C. F. Meyer in seinem Reformationsroman den Zwingli wohl kritischer dargestellt hätte als Keller das in seiner Novelle Ursula tat – «der ganze, der bedeutende, der tiefe Zwingli sei das nicht», habe Meyer seiner Schwester Betsy zufolge gegenüber dem Kollegen Keller bemerkt.9

In Meyers überliefertem Fragment10 wird in einem dramatischen Höhepunkt geschildert, wie Zwingli die Hinrichtung des Vaters von Conrad Grebel betreibt. Insbesondere in der Innerschweiz genoss dieser, Junker Jakob Grebel, viel Vertrauen, da seine Frau, Dorothea, der Landammann-Familie der Fries aus Uri entstammte und er einen Religionskrieg unbedingt zu verhindern suchte.

C. F. Meyer schien auch den Täuferinnen und Täufern etwas mehr Verständnis entgegenbringen zu wollen als Gottfried Keller. Wo Keller bei ihnen von Seelenkrankheit, Wahnwitz, Verkehrtheit spricht und die Ursula als zeitweise Irrsinnige zeichnet, sah Meyer in Conrad Grebel nach Aussage seiner Schwester Betsy einen genialen Phantasten, der, wie es der Meyer-Vertraute Adolf Frey ausdrückte, «von der Glaubensbewegung» mehr «hofft und fordert», «als sie zu erfüllen imstande ist», und «scheitert».

Erstmals erwähnte C. F. Meyer das Romanvorhaben 1873 in einem Brief an seinen Leipziger Verleger Hermann Haessel11 und 1876, nota bene ein Jahr bevor Kellers «Ursula» erschien, unterstrich er: «Offen gestanden, ich habe wirklich einen grossen historischen Roman im Entwurf». Seiner Schwester Betsy schrieb er damals: «Es vergeht kein Tag und keine Nacht, dass ich nicht am Komtur drehe und wende.»

Ein besonderer Umstand scheint ihn mehr als anderes blockiert zu haben: das Problem der Grausamkeit. Als C. F. Meyer 1892 seine letzte Novelle, Angela Borgia, veröffentlicht – «eine entsetzlich schwere Arbeit»12 –, meinte er: «Die Renaissance ist mir, für einmal, bis zum Hass verleidet.»13 «Es ist nicht das einzige Werk, das unvollendet blieb, er wollte noch verschiedene andere Projekte verfolgen», erklärt Elisabeth Lott.

Gesundheitliche Probleme taten das übrige: «Altersgebrechen – Augenleiden. Aber sein Leiden war hauptsächlich psychischer Natur. Er hat in der Jugend eine psychische Krise durchgestanden, und im Alter erneut. Dazwischen liegen die lichtvollen Jahrzehnte, in denen er sein Werk geschaffen hat.»

Conrad Ferdinand Meyer verstarb am 28. November 1898 in Kilchberg/ZH. Am 11. Oktober 2025 jährt sich der Geburtstag C. F. Meyers zum 200. Mal.

* Von Peter Kamber erschien im Frühling der historische Roman «Die himmlischen Versuchungen des Conrad Grebel» (Limmat Verlag, 318 Seiten, 38 Franken).

Fussnoten

1) Adolf Frey, Conrad Ferdinand Meyers unvollendete Prosadichtungen, Leipzig 1916, Bd. 1, S. 25 und 28
2) Ebenda, S. 19
3) Ebenda, S. 28
4) Conrad Ferdinand Meyer 1828-1898, hg. von Hans Wysling und Elisabeth Lott-Büttiker, Zürich 1998
5) Philipp Theisohn, Conrad Ferdinand Meyer. Schatten eines Jahrhunderts, Göttingen 2025, S. 249
6) Adolf Frey, Conrad Ferdinand Meyers unvollendete Prosadichtungen, Leipzig 1916, Bd. 1, S. 27
7) «Keller zum Vergnügen», hg. von Ursula Amrein und Michael Andermatt, Reclam 2019, S. 161 (Keller erinnert sich daran in einem Brief an Theodor Storm, 29. Dezember 1881).
8) C.F. Meyers Briefwechsel, Bd. 2, Bern 1999, S. 174 (Meyer an François Wille, 24. Oktober 1890)
9) Adolf Frey, Conrad Ferdinand Meyers unvollendete Prosadichtungen, Leipzig 1916, Bd. 1, S. 26
10) Ebenda, S.29-36
11) Ebenda, S. 17f
12) Conrad Ferdinand Meyer 1828-1898, hg. von Hans Wysling und Elisabeth Lott-Büttiker, Zürich 1998, S. 436
13) Adolf Frey, Conrad Ferdinand Meyers unvollendete Prosadichtungen, Leipzig 1916, Bd. 1, S. 23