Wann schlagen wir die Atomkraft in den Wind?
Solaroffensive und Windexpress oder doch wieder neue AKW – wohin soll die Reise in Sachen Klimaziele und Stromversorgungssicherheit gehen? Ein Überblick.
Auf den Solar- soll der Windexpress folgen: Die Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie des Nationalrats (UREK-N) hat letzte Woche ihre Beratung des Bundesgesetzes über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien, den sogenannten Mantelerlass, fortgesetzt. Doch auch die SVP blieb nicht untätig und brachte das Referendum gegen den Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative zustande.
Zudem sammelt ein Komitee Unterschriften für die Volksinitiative «Jederzeit Strom für alle (Blackout stoppen)». Gemäss einem Beitrag, der am Montag auf infosperber.ch erschien, wird die Initiative «über eine Lobby-Organisation für die Förderung der Kernenergie in der Schweiz und weltweit» finanziert, die nicht offengelegt werde. Den Stimmberechtigten werde «eine Atomstrom-Initiative unter dem Deckmantel von Versorgungssicherheit, Unabhängigkeit und Klimaschutz verkauft – auf den Unterschriftenbogen wird das Wort Atomstrom oder Kernenergie kein einziges Mal erwähnt», heisst es weiter.
In Sachen Atomstrom sollte eigentlich alles klar sein, oder etwa nicht?
Doch: Das Parlament hat zur Umsetzung der Energiestrategie 2050 das Energiegesetz revidiert und damit ein erstes Massnahmenpaket beschlossen. Dieses Energiegesetz vom 30. September 2016 haben die Stimmberechtigten am 21. Mai 2017 mit 58,2 Prozent Ja-Stimmen gutgeheissen.
Was bedeutet dies nun für den raschen Ausbau der Erneuerbaren?
Zuerst das Positive: Der Mantelerlass ist auf Kurs. Die UREK-N teilte am 26. Januar mit, sie habe die Weichen für einen «markanten Ausbau der erneuerbaren Energien» gestellt. Die Kommission hat «die Rahmenbedingungen für Wasserkraft-, Windenergie- und Solarenergie-Anlagen von nationaler Bedeutung» definiert und dabei «einen Kompromiss zwischen Schutz- und Nutzungsinteressen erarbeitet». Zudem fordert sie «eine Solarpflicht für alle Neubauten sowie – mit Einschränkungen – für bestehende Gebäude».
Vor allem aber sollen nach dem Willen der UREK-N und anders, als der Ständerat als Erstrat beschloss, «Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energien in Biotopen von nationaler Bedeutung sowie in Wasser- und Zugvogelreservaten weiterhin ausgeschlossen sein». Parkplätze mit mehr als 15 Parkfeldern in Bauzonen sollen hingegen mit Solaranlagen überdacht werden können. Die Arbeit der UREK-N ist damit noch nicht beendet. Das Ziel lautet aber, die Vorlage rechtzeitig zur Frühjahrssession, die am 27. Februar beginnt, zuhanden des Nationalrates zu verabschieden.
Welche Rolle spielt die Gletscherinitiative?
Das Initiativkomitee hat die Gletscherinitiative zugunsten des indirekten Gegenvorschlags bedingt zurückgezogen. Dieses «Bundesgesetz über die Ziele im Klimaschutz, die Innovation und die Stärkung der Energiesicherheit» ist ein Rahmengesetz: Es setzt in erster Linie Ziele, wie auf www.gletscherinitiative.ch nachzulesen ist, «enthält aber auch ein paar Massnahmen. Dazu gehören unter anderem Netto-Null-Fahrpläne für Unternehmen, die Förderung neuartiger Technologien und Prozesse, die Risikoabsicherung und ein Impulsprogramm für Heizungsersatz und Energieeffizienz».
Und das Negative?
Gegen diesen Gegenvorschlag hat die SVP das Referendum ergriffen. Die Volksabstimmung findet voraussichtlich am 18. Juni statt. Sollte der Gegenvorschlag abgelehnt werden, dürfte die Abstimmung über die Gletscherinitiative folgen, denn sie wurde ja nur bedingt zurückgezogen. Die SVP hatte zwar gemäss Medienberichten etwas Mühe mit Sammeln, brachte die nötigen Unterschriften für das Referendum gegen das «Stromfresser-Gesetz», wie sie es nennt, aber zusammen. In ihrer Medienmitteilung vom 19. Januar gibt sie ihm übrigens einen weiteren ‹netten› Namen, sie schreibt dort vom «teuren und verlogenen Klimaschutz-Gesetz». Mit diesem Referendum war zwar zu rechnen, es kostet aber trotzdem Zeit. Noch viel mehr auf Zeit gespielt wird jedoch in der Atomfrage.
Inwiefern?
Siehe oben: 58,2 Prozent der Abstimmenden haben 2017 das Energiegesetz angenommen, neue AKW sind damit vom Tisch. Dennoch tut insbesondere die SVP zurzeit so, als befänden wir uns in der heissen Phase eines Abstimmungskampfes über die Frage, ob wir unseren Strom künftig lieber mittels erneuerbarer Energien oder AKW produzieren wollen. Was eine Mehrheit 2017 beschlossen hat, scheint sie nicht zu kümmern, ja mehr noch: Man könnte glatt meinen, «das Volk» habe doch nicht immer recht, sondern nur dann, wenn es so abstimmt, wie es der SVP passt. Doch auch die Atomlobby kann sich offenbar partout nicht mit diesem Abstimmungsresultat abfinden. Wir sehen uns also quasi mit einem Ablenkungsmanöver im Doppelpack konfrontiert – was sie allerdings der Öffentlichkeit nicht auf die Nase binden, im Gegenteil.
Will heissen?
Aufschlussreich ist das Buch «Spurensuche. Wie sich die Schweiz in eine energiepolitische Sackgasse manövrierte» von Irene und Simon Aegerter (als pdf-Datei greifbar auf www.energieclub.ch). Die beiden kämpften seit Jahrzehnten für die Atomenergie, schreibt Daniel Bütler in einem Artikel in Heft 4/2019 der Zeitschrift ‹Energie & Umwelt›, dem Magazin der Schweizerischen Energiestiftung SES: «Vereint engagierten sich die ‹Atom-Aegerters› gegen die Energiestrategie 2050 und das AKW-Verbot.» Doch zurück zum erwähnten Buch der beiden: Ausführlich beschreiben sie unter anderem ihre Enttäuschung darüber, dass sich im Vorfeld der Abstimmung vom 21. Mai 2017 politische Parteien und Verbände, die sie auf ihrer Seite gewähnt hatten, nicht gegen das Energiegesetz eingesetzt hätten: «Somit war die SVP praktisch allein gegen das Energiegesetz, abgesehen von unserem Komitee ‹Energiegesetz – so nicht!› der Kettenreaktion, Freie Landschaft Schweiz (FLCH) und einigen Einzelkämpfern (…).»
Und was soll daran interessant sein?
Der Verband Freie Landschaft Schweiz FLCH kämpft laut seiner Website zusammen mit seinen «natürlichen und juristischen Mitgliedern (…) für den Schutz vor der Industrialisierung unserer Schweizer Landschaften durch Windkraftanlagen». Von einem Einsatz für die Atomkraft steht da weit und breit nichts. Umso mehr sticht ein Beitrag in der an alle Haushalte verteilten SVP-Zeitung zu den Zürcher Wahlen vom 12. Februar hervor. Er trägt den Titel «Luftschloss ‹Zürcher Windkraft›» und ist mit einer Fotomontage illustriert: Windräder in Reih’ und Glied erstrecken sich über bewaldete Hügel. Die Bildunterschrift lautet «geplanter Windpark am Bachtel gemäss Baudirektion Zürich» – als Bildhinweis steht jedoch «Bild FLZH». Freie Landschaft Zürich ist, wie der Name nahelegt, der Zürcher Ableger von Freie Landschaft Schweiz: Nicht als solche deklarierte AtomkraftbefürworterInnen gegen Windkraft auf Wahlwerbung der SVP – soviel zum Thema transparente Information der Öffentlichkeit…
Zurück zum indirekten Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative: Wird er im Juni angenommen, sind alle Probleme gelöst, oder?
Leider nein. Auf der Website der Gletscherinitiative heisst es, der indirekte Gegenvorschlag würde nicht genügen, um das Pariser Klimaabkommen zu erfüllen: «Die Schweiz hat viel Zeit verloren (wie die meisten Länder der Welt), um die Klimakrise rechtzeitig in den Griff zu kriegen. Das können wir mit dem besten Gesetz nicht aufholen.» Aber das neue Gesetz schlage «die richtige Richtung ein», ist dort auch zu lesen. Und das ist aus Sicht der GegnerInnen der Energiewende der Punkt, siehe oben: Wer sich seit dem 21. Mai 2017 nicht damit abfinden konnte, die Abstimmung über das Energiegesetz verloren zu haben, der will garantiert nicht einfach zuschauen, wie Bundesrat und Parlament die eingeschlagene Richtung beibehalten – auch wenn sie damit nichts anderes machen, als was ihnen die Mehrheit damals aufgetragen hat.
Aber angesichts des Krieges gegen die Ukraine und der allgegenwärtigen Warnungen vom letzten Herbst, es drohe uns eine Strom- beziehungsweise Energiemangellage, ist es doch keine schlechte Idee, sich grundsätzlich Gedanken darüber zu machen, wie wir unseren Strombedarf decken sollen?
Sicher, doch es ist ein Unterschied, ob man sich Gedanken macht, wie man den Ausbau der Erneuerbaren rasch zusätzlich befördern könnte – oder ob man, wie die SVP und die Atomlobby, so tut, als sei es jetzt und in Zukunft völlig unmöglich, den Strombedarf mit erneuerbaren Energien zu decken, und als seien neue AKW die einzig mögliche Rettung aus dieser Situation. In der Fernsehsendung ‹NZZ Standpunkte› vom 15. Januar erklärte beispielsweise der Unternehmer und emeritierte ETH-Professor Anton Gunzinger, wir hätten in der Schweiz nicht genügend Photovoltaikanlagen und Windräder aufgebaut, sodass den fossilen Energieträgern bis heute eine viel zu grosse Rolle zukomme, nicht zuletzt im Bereich der Mobilität. Darüber hinaus sei die Renovationsrate bei Gebäuden zu tief. Er plädierte deswegen aber nicht etwa für ein Revival der Atomkraft, sondern hob im Gegenteil hervor, diese sei eine «Sackgasse».
Inwiefern?
Russland ist einer der grössten Produzenten von Uran. In einem Bericht auf dem Portal www.investigate-europe.eu, für das ein Team von JournalistInnen aus elf europäischen Ländern gemeinsam recherchiert, ist folgendes zu lesen: «Während sich Europa vom Import fossiler Brennstoffe aus Russland löst, bleibt die Atomindustrie stark von russischen Lieferanten abhängig und importiert Uran im Wert von Hunderten von Millionen Euro jährlich. Auch das neueste Sanktionspaket schont die russische Atomindustrie – gegen den Willen von Polen, Deutschland und vier weiteren EU-Staaten.» Diese Staaten hätten gerne die Abhängigkeit von Russland bei allen Energieressourcen beendet, also auch beim Uran, doch sie hätten akzeptieren müssen, «dass Sanktionsbeschlüsse einstimmig gefasst werden». Der Grund für diesen Widerstand lasse sich mit einem Wort erklären: Abhängigkeit. Die Europäische Kommission habe dies nie vorgeschlagen, weil die Auswirkungen für einige östliche Mitgliedsstaaten, die stark von russischer Infrastruktur und Technologie abhängig seien, «stärker wären als für Russland selbst», hält Investigate Europe fest. Doch das ist noch nicht alles.
Will heissen?
Der Uranabbau verursacht enorme Umweltschäden und hinterlässt radioaktive Abfallberge, und zumindest in der Schweiz gibt es aktuell weder die Möglichkeit, Brennstäbe wieder aufzubereiten, noch ein Endlager für den strahlenden Abfall. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass in der EU seit einem Jahr Investitionen in neue Atom- und Erdgaskraftwerke unter bestimmten Auflagen als klimafreundlich eingestuft werden: Diese «grüne EU-Taxonomie» ist als Leitfaden für InvestorInnen gedacht. Sie soll die «Finanzierung von sauberen Technologien für den Übergang in eine nachhaltige und klimaneutrale Wirtschaft fördern», heisst es auf dem Portal www.energiezukunft.eu, wo im Übrigen auch darauf verwiesen wird, dass mehrere NGO diese Taxonomie als «Greenwashing von Atom- und Erdgasinvestitionen» kritisierten.
Und was den Krieg betrifft, gibt es Profiteure, und die sitzen auch in der Schweiz: Die Rohstoffhändler machen gerade Rekordgewinne, wie im aktuellen Magazin der NGO Public Eye (Nr. 39, Januar 2023) nachzulesen ist. «Die Marktverwerfungen aufgrund der Pandemie und der russischen Invasion in der Ukraine haben ihre Gewinne vervielfacht. Dadurch wächst auch der Sektor in der Schweiz, der nun mit einem Anteil von acht Prozent am Bruttoinlandsprodukt bald so gross ist wie der Finanzplatz», heisst es dort.
Woher stammt eigentlich das Uran für die AKW in der Schweiz?
Laut der Website www.kernenergie.ch, die gemäss Impressum «eine Informationsdienstleistung von swissnuclear», also des Verbandes der Schweizer Kernkraftwerksbetreiber ist, beziehen «die Schweizer KKW (…) ihren Kernbrennstoff auf dem Weltmarkt; teilweise aus Russland und teilweise aus westlichen Ländern wie Kanada, Australien oder den USA».
Die Herstellung von Solarpanelen und Windrädern ist allerdings auch keine durchwegs saubere Sache.
Das stimmt, und obendrein kommen Photovoltaikanlagen zu 60 Prozent aus China, wie Anton Gunzinger in der oben erwähnten Sendung betonte – Abhängigkeiten gibt es also auch hier. Aber anders als Brennstoff, der laufend nachgekauft werden muss, produzierten Module, die einmal installiert seien, in Gunzingers Worten «die nächsten 25 bis 35 Jahre Strom – da kann der Chinese machen, was er will». Atomenergie und andere nicht erneuerbare Energien hätten zudem einen weiteren «erheblichen Nachteil», gab er zu bedenken.
Welchen denn?
Je mehr sie produzieren, umso teurer wird die Stromproduktion. Nicht einmal als Notanker seien Atomkraftwerke deshalb geeignet: «Ein AKW rentiert sich schon dann nicht mehr, wenn die Stromproduktion die Bandenergie überschreitet.» Beispiel gefällig? Elektrospeicherheizungen galten vor allem in den 1970er- und 1980er-Jahren als «umweltfreundlich», heute sind sie als Stromfresser verpönt. Damals waren sie bei Kraftwerksbetreibern beliebt, weil diese so einen Teil des überschüssigen Nachtstroms aus den AKW loswurden, und die HausbesitzerInnen profitierten von tiefen Strompreisen.
Die angeblich so unsicheren Methoden, dann zu ‹ernten›, wenn die Sonne scheint oder der Wind weht, und für Überschüsse beispielsweise Pumpspeicherkraftwerke als grosse Batterien zu brauchen, scheinen doch nicht ganz verkehrt zu sein?
Es sieht zumindest so aus. An Erfahrung mit der ‹Veredelung› von Strom mittels Pumpspeicherkraftwerken mangelt es hierzulande bekanntlich nicht. Übers ganze Jahr hinweg gesehen produzieren wir in der Schweiz mehr Strom, als wir verbrauchen, wobei im Sommer Überschüsse anfallen, während wir im Winter zukaufen müssen.
Weshalb reden wir eigentlich erst jetzt darüber, dass Windkraftwerke die ideale Ergänzung zur Sonnenenergie sind?
Laut Anton Gunzinger gibt es bezüglich Windturbinen drei hindernde Kräfte, wie er es in der erwähnten Sendung ausdrückte, nämlich «die Atomkraftbefürworter, weil die unbedingt ein Atomkraftwerk haben wollen; die extremen Naturschützer, die einfach sagen, ‹gar keine Windräder›, und ein paar Prozent Esoteriker, die sagen, ‹Windräder sind so gefährlich›. Und das gibt dann leider eine knappe Mehrheit, die die ganze Entwicklung verhindert.» Die Chancen, dass es auch anders herauskommen könnte, stehen jedoch nicht schlecht: Der Bund gibt den Kantonen via Energie- und Raumplanungsgesetz den Auftrag, in ihren Richtplänen «geeignete Gebiete und Gewässerstrecken» für die Wind- und Wasserkraft festzulegen, und diese Arbeiten sind im Kanton Zürich bereits im Gang (siehe P.S. vom 14. Oktober 2022).
Und wie lautet das Fazit?
Wenn die Mär von der «sicheren und sauberen Atomkraft» bald aus den Köpfen verschwindet und nicht mehr dazu benutzt wird, den Ausbau von Solar- und Windenergieanlagen zu verzögern oder gar zu verhindern, dann sieht es nicht schlecht aus für den überfälligen Schritt in eine erneuerbare Zukunft.
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