Wählen wirkt schon
Wenn Wahlen etwas verändern würden, wären sie schon längst verboten», so heisst ein berühmter Anarcho-Spruch, der auch schon Kurt Tucholsky oder Emma Goldmann zugeschrieben wurde. Vermutlich ist er aber einfach einer jener Graffitti-Sprüche, die sich erhalten haben, weil er von Generationen von Linksaussen immer wieder neu verbreitet wurde. Indirekt davon inspirieren lassen scheint sich die Chefredaktorin des ‹Tages-Anzeigers› Judith Wittwer. Unter dem Titel «Streiken statt wählen» schreibt sie, dass der Klimastreik zwar junge Leute politisiere, aber offensichtlich nicht zum Wählen motiviere. Die «grossen und konkreten» Themen Rahmenabkommen oder Klimapolitik würden die Leute bewegen, «ritualisierte Prozesse» wie kantonale Wahlen und kantonale Politik wohl eher nicht. Der Zürcher Wahlkampf sei eh «zum Einschlafen», so Wittwer. Das sei aber alles halb so wild. Die Wahlabstinenz sei eher ein Zeichen der Zufriedenheit: «Zürich wächst und blüht. Die Menschen haben Arbeit. Der bürgerliche Kanton schwimmt im Geld. Da kommt keine Wechselstimmung auf.»
Mal abgesehen davon, dass es irritierend ist, wie nonchalant sich eine Chefredaktorin einer wichtigen Tageszeitung zum Thema Wahlen äussert und auch davon, dass überhaupt nicht gesagt ist, dass die Klimastreikenden nicht wählen. In einem Punkt hat sie nicht Unrecht: Kantonale Wahlen und Politik interessieren die Leute tatsächlich wenig. Es ist wie häufig auch ein wenig eine Huhn und Ei-Frage: Interessieren sich die Leute so wenig, weil auch so wenig berichtet wird oder wird so wenig berichtet, weil es die Leute nicht interessiert? Tatsächlich foutieren sich gerade viele StadtzürcherInnen um kantonale Politik und kantonale Wahlen, nur um dann wieder auszurufen, wenn der Kanton wieder eine Politik gegen die Interessen der Stadt macht. Das ist keine neue Entwicklung.
In den letzten Jahren fand aber besonders medial eine Konzentration der Medien auf nationale Themen und Personen statt. Wenn bei Stadtrats- oder Regierungsratswahlen kein Nationalrat oder keine Nationalrätin antritt, beklagen sich die Medien darüber, dass keine bekannten Persönlichkeiten antreten. Dass die Kantons- und GemeinderätInnen nicht über Bekanntheit verfügen, liegt aber auch an der mangelnden Berichterstattung über lokale und kantonale Politik. Über viele politische Themen und Abstimmungen wird gar nicht erst berichtet, einzelne Vorstösse oder Themen werden dafür gross aufgemacht. Das nimmt mitunter kuriose Züge an: Im ‹Tages-Anzeiger› wurde beispielsweise gross über einen Vorstoss im Zürcher Gemeinderat berichtet, der will, dass an allen Schulen qualitativ hochstehende Gymiprüfungsvorbereitungskurse für alle angeboten werden. Alle Fraktionen kamen dabei gross zu Wort, ausser den beiden Urhebern des Vorstosses, die beiden SP-Gemeinderäte Urs Helfenstein und Marco Denoth.
Auch über kantonale Themen im Wahlkampf ist kaum etwas zu lesen. Stattdessen dominierte das Europa-Thema die Diskussion. Und von einigen Leuten war zu hören, dass sie die SP nicht wählen werden wegen ihrer Position zum Rahmenabkommen. Nun wird im Zürcher Kantonsrat zwar etliches, auch gewichtiges verhandelt: Das Rahmenabkommen hingegen garantiert nicht.
Aber sonst gibt es eine Reihe von wichtigen Themen, die die BewohnerInnen des Kantons Zürichs im tagtäglichen Leben spüren. Die absolute Mehrheit von SVP, FDP und EDU hat in den vergangenen Jahren der kantonalen Politik deutlich den Stempel aufzudrücken versucht. Ein paar Müsterli dieser rechtskonservativen Politik: Die Stimmbevölkerung sagte Ja zu einem Gegenvorschlag zu einer SP-Initiative für Zonen für gemeinnützige Wohnungen. Bis heute ist das Anliegen nicht umgesetzt worden. Seit mehreren Jahren müsste der Kanton eine Vorlage bringen, die es erlaubt, den Planungsmehrwert bei Neueinzonungen, aber auch bei Auf- und Umzonungen abzuschöpfen. Baudirektor Kägi (SVP) verzögerte dies, solange er konnte. Umgesetzt ist immer noch nichts. Einige Vorhaben wurden immerhin von der SP verhindert: Die Privatisierung des Kantonsspitals Winterthur und der integrierten Psychiatrie Winterthur, das verpfuschte Wassergesetz und den Angriff auf den öffentlichen Verkehr beim Verkehrsfonds.
Tatsächlich sind es aber nur einige wenige Stimmen, die heute den Unterschied machen. Und die künftig einen Unterschied machen könnten. Gerade, wenn der Kanton Zürich «im Geld schwimmt», wie es Judith Wittwer schreibt. Denn es ist entscheidend, wie ein reicher und erfolgreicher Kanton mit den Schwächsten umgeht. In der nächsten Legislatur berät der Kantonsrat das Sozialhilfegesetz. Hier machen wenige Stimmen für recht viele Leute viel aus. In der vergangenen Legislatur dominierten Hardliner von GLP, FDP und SVP die Debatte. Ein paar Stimmen mehr für die Linke und es kann mindestens verhindert werden, dass die Sozialhilfe gekürzt wird.
Auch wenn jetzt einige PolitikkommentatorInnen die GLP zur neuen sozialliberalen Kraft heraufbeschwören wollen, im Kantonsrat (und auch im Nationalrat) stimmt sie in sozialpolitischen Fragen zuverlässig rechts. So war sie im Kantonsrat für den Austritt aus der SKOS und für die Kürzung der Sozialhilfe bei Kriegsflüchtlingen. Ebenso ist sie dagegen, dass die Prämienverbilligungen bei den Krankenkassen mehr ausgeschöpft werden. In Bundesbern wollte sie, dass die Mindestfranchise bei der Krankenkasse auf 500 Franken erhöht wird. Beides führt dazu, dass Leute mit geringem Einkommen sich zweimal überlegen müssen, ob sie zum Arzt gehen können. Hier politisiert die CVP sozialer.
Einige wenige Stimmen werden in der nächsten Legislatur darüber entscheiden, ob der Kanton tatsächlich eine griffigere Energie- und Umweltpolitik (reine Symbolpolitik nützt nämlich dem Klima wenig) machen wird. In den letzten Jahren machte sich der Kanton zudem einen Sport daraus, die Stadt Zürich abzustrafen, sei es bei Häuserbesetzungen, der Verkehrspolitik oder der künftigen Nutzung der Kaserne. Bürgerliche Städterinnen und Städter kompensieren im Kantonsrat ihre fehlenden Erfolge in der kommunalen Politik. Da nützt auch die Gründung einer FDP Urban nichts.
Es gibt also genügend Gründe zu wählen. Und genügend Gründe, die Nachbarin, den Onkel oder die Arbeitskollegin auch noch davon zu überzeugen. Auch an der Urne abstimmen ist nicht schwer. Man kann es mit dem Sonntagsspaziergang verbinden oder seinen Kindern etwas Staatskundeunterricht erteilen. Es lohnt sich so oder so.