«Wachstum ohne Grenzen geht nicht mehr»

Der Zürcher Gemeinderat möchte sowohl in der Stadtverwaltung als auch in der Privatwirtschaft die 35-Stunden-Woche in wissenschaftlichen Studien untersuchen lassen. 

Das Hauptgeschäft der Sitzung des Zürcher Gemeinderats vom Mittwochabend bildete eine Motion von David Garcia Nuñez (AL) und Anna Graff (SP) für ein «Pilotprojekt für die Einführung einer 35-Stunden-Woche für städtische Angestellte im Schichtbetrieb». Mit einem Postulat forderten die beiden zudem einen «Pilotversuch für eine Viertagewoche bei maximal 35 Stunden Arbeit pro Woche mit einem gestaffelten, lohnabhängigen Lohnausgleich».

«Arbeiten, um zu leben»

Zur Begründung der gemeinsam behandelten Vorstösse erinnerte David Garcia Nuñez daran, dass es die 35-Stunden-Woche beziehungsweise entsprechende Versuche bereits in vielen Ländern gebe, von Frankreich und Belgien über Grossbritannien bis Schweden. Damit lasse sich die Lebensqualität «erheblich verbessern». Zudem sei klar, dass es einen gesellschaftlichen Wandel der Wirtschaft brauche, denn «das Wachstum ohne Grenzen geht nicht mehr». Die «ausgebeutete Arbeiterschaft braucht keine Pflästerlipolitik», betonte er: «Less is more», also «weniger ist mehr». Das Pilotprojekt solle nicht nur im Care-Bereich durchgeführt werden, sondern müsse auch Dienstabteilungen umfassen, in denen vor allem Männer arbeiteten. Stellenaufstockungen seien wohl nötig, aber ebenso nötig sei es, «alte Zöpfe abzuschneiden». 

David Garcia Nuñez hielt weiter fest, die Auswirkungen auf den Lohn seien in den Vorstössen bewusst ausgelassen worden. Als Richtschnur sei davon auszugehen, dass die tiefen Löhne gleich bleiben und die hohen etwas tiefer werden müssten. In Island sei die Umstellung von der 40- auf die 35-Stunden-Woche für 86 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung erfolgreich eingeführt worden, und im schwedischen Göteborg arbeite das Pflegepersonal sechs Stunden pro Tag und sei weniger krank, zufriedener und leistungsfähiger, fuhr er fort und wunderte sich, «weshalb sich der Stadtrat mit Händen und Füssen dagegen wehrt».

Finanzvorstand Daniel Leupi schickte seinen Ausführungen an die Adresse der Motionär:innen voraus, jetzt, wo er gehört habe, dass das städtische Personal «ausgebeutet» werde, sei ihm klar, «dass wir nicht auf demselben Planeten leben». Er wehre sich «entschieden» gegen solche Verlautbarungen. Die Stadt führe regelmässig Mitarbeiter:innenbefragungen durch, um zu erfahren, wie das Personal sich fühle. Es seien nicht so viele gestresst, aber Schichtarbeit sei nun mal «schwierig». Der Stadtrat sei auch nicht untätig, er habe hunderte Stellen in der Pflege geschaffen, Löhne angepasst, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert. Die Stadt zahle zudem gerade in den unteren Funktionsstufen «okay», und es sei ihm angesichts des Fachkräftemangels ein Rätsel, wo die zusätzlich benötigten Mitarbeiter:innen herkommen sollten. Schliesslich erwähnte Daniel Leupi auch noch das Problem, dass die Einführung einer 35-Stunden-Woche nur in einzelnen Bereichen «je nachdem zu einer massiven Ungleichbehandlung» führen könnte. Er wolle aber keine Lohnklagen wegen Ungleichbehandlung riskieren. Deshalb sei der Stadtrat lediglich bereit, die Motion als Postulat entgegenzunehmen.

Zum Postulat führte Anna Graff aus, wir sollten «arbeiten, um zu leben, nicht leben, um zu arbeiten». Wir hätten eine der längsten Arbeitszeiten, und deshalb biete es sich an, die Vier-Tage-Woche auch in interessierten privaten Unternehmen zu testen. Der Fachkräftemangel sei kein Argument dagegen, betonte sie, vielmehr könne man so die Fachkräfte halten. Das zeigten nicht nur Versuche in anderen Ländern, sondern auch im Raum Zürich. In Basel sei bereits beschlossen, dass die Verwaltung künftig 38 Stunden arbeite. Es brauche «menschenfreundlichere Arbeitsbedingungen als die 42-Stunden-Woche, sagte Anna Graff und betonte, «die Zeit und die Gesellschaft bleiben nicht stehen, auch wenn es sich die ­Rechten wünschen».

«Privatwirtschaft nicht zusätzlich belasten»

Martina Zürcher (FDP) erklärte, der Fachkräftemangel sei Realität, den Arbeitgebern sei das jedoch bewusst, und einige hätten auch bereits Verschiedenes unternommen. Zudem seien die Beispiele aus dem Ausland nicht nur positiv. Wenn Unternehmen jedoch die Vier-Tage-Woche wollten, könnten sie sie einführen und auch wissenschaftlich begleiten lassen. Dazu brauche es die Stadt nicht. Deshalb lehne die FDP Motion wie Postulat ab. Martin Götzl (SVP) befand, jede Woche würden im Rat «Millionen verschleudert, zum Beispiel 300 Millionen für den Wohnraumfonds». 35 Stunden arbeiten und 100 Prozent verdienen, das gehe nicht. Die Privatwirtschaft habe in den letzten drei Jahren unter Corona und der Finanzkrise gelitten, man könne es ihr nicht zumuten, zusätzlich die Kosten fürs Personal zu erhöhen.

Florine Angele (GLP) fand, der Inhalt der Motion sei «utopisch und nicht realistisch», das zeige die Antwort des Stadtrats deutlich. Deshalb sei den Grünliberalen auch nicht klar, weshalb dieser bereit sei, sie als Postulat entgegenzunehmen. Ausserdem sei der «Public Private Paygap», der Lohnunterschied zwischen öffentlicher Hand und privaten Unternehmen, bereits Realität. Christian Traber (Mitte) erklärte, auch die Mitte-/EVP-Fraktion lehne sowohl Motion wie Postulat ab. 42 Stunden seien zwar relativ viel, aber das Gesamtpaket der Arbeitsbedingungen in der Stadt sei gut. Bei den privaten Arbeitgeber:innen könnten jedoch zumindest die Kleinen nicht mithalten, ein solcher Versuch wäre ein schlechtes Zeichen für KMU. Anna-Béatrice Schmaltz (Grüne) hingegen betonte, die Care-Arbeit werde immer noch vor allem von Frauen erledigt. Eine 35-Stunden-Woche diente der Gleichberechtigung und würde zu einer faireren Verteilung von Care-Arbeit führen. Zudem hätte eine kürzere Arbeitswoche auch positive Auswirkungen auf den Klimaschutz, auch die Freizeit würde klimaschonender verbracht. Die Grünen unterstützten sowohl Motion wie Postulat. Mit 60:57 Stimmen überwies der Rat erst die Motion und sodann mit demselben Stimmenverhältnis auch das Postulat.

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