Vorteil: Romandie
Die Mehrheit der Produktionen in der jurierten Auswahl für die zeitgenössischen Schweizer Tanztage kommt aus der Romandie, so auch der einsame Überflieger «La Nuit transfiguré» von Philippe Saire. Auffallend viele der 14 gezeigten Werke experimentieren an den äussersten Rändern der Kunstsparte Tanz.
Die Grenze zwischen nonchalant und rotzfrech sind fliessend. Dafür ist die Trümmer-Gender-Freakshow «Mutant Slappers & The Planet Bang» im Resultat das erfrischendste, was an diesen Tanztagen geboten wurde und mit grossem Abstand die authentischste Umsetzung eines solchen Vorhabens seit Jahren. Die Kooperation der Genfer Rockband KMA (Dirty noisy Rock) mit József Trefeli, Kylie Walters und ihrer Tanzcompagnie Ornithorynque betreibt keine verkrampfte Möchtegern-Show, sondern rotzt in good old Punkmanier die Bühne. Die Schminke ist von Anfang an verrutscht, die Beine unter den Netzstrümpfen niemals rasiert, die Perücken billig. Der Witz ist obzsön, der Tanz lasziv, die Musik fadengrad heraus, dafür mit politischem Bewusstsein in den Texten durchsetzt – Bourgeoisie reimt sich auf sex for free und liberty. Hinzu kommt die Lichtinstallation; vermeintlich simpel aber sehr effektvoll. Als Gesamtkunstwerk ist das der Hammer. Konsequent bis ins Letzte. Natürlich auch in der Inkaufnahme der kompletten Verstörung eines Teils des Publikums, der sich von solch selbstverständlich zelebrierter Lebenslust auf den imaginären Schlips getreten fühlt und die Hände verwerfend vorzeitig abzieht. Für alle anderen wirds eine schwer zu übertreffende, lange im Gedächtnis bleibende fulminante Freakshow.
Absichtlich nerven
Ebenfalls komplett gegen sämtliche gängigen Regeln für eine Tanzaufführung verstossen Ioannis Mandafounis & Fabrica Mazilah alias MAMAZA mit «Eifo Efi». Die beiden sagenhaft guten Tänzer labern das Publikum in die Flucht. In der Theorie, denn das Setting ist klassisch mit Bühne und Bestuhlung und bedürfte grossen Mutes, während der Vorführung mitten durch das Geschehen reissaus zu nehmen. Die beiden reden während der gesamten Performance in einer Schnellsprechmanier, die schon anstrengend wäre, würden sie nicht gleichzeitig auch noch zwei verschiedene Inhalte transportieren. Gerade so, als ob Fernseher und Radio gleichzeitig liefen. Sie reizen die Schmerzgrenze regelrecht aus und während der Show ertappt man sich dabei, wie man sich wie automatisiert schlicht aufregt und in sich hineinflucht «do shut up and dance». Mit der gebotenen Distanz verkehrt sich allerdings der Live-Eindruck in der Reflektion nicht grad in Begeisterung, aber immerhin in Anerkennung über die Raffinesse des erzielten Denkanstosses. Indem ihre übereinander gelegten Erzählungen einzig vollkommen oberflächliche Luxusprobleme thematisieren und das in einer Fülle, die einen regelrecht überrollt, dass man bald nicht mehr weiss, wo einem der Kopf steht, finden sie eine überzeugende Bühnenübersetzung für einen Zustand der modernen Gesellschaft. Sie thematisieren die komplette Überforderung seiner selbst mit Multitasking in Beruf, 24-Stunden Social media-Präsenz und einer häufig zu beobachtenden gleichzeitigen Abnahme der Fähigkeit, aktiv zuzuhören. Statt sich mit den drängendsten Themen der Aktualität auseinanderzusetzen, sind die Wege einer Sublimierung nachgerade vorrangig mit Oberflächlichkeit verbunden. Um ein Publikum aufzurütteln und den Finger hart auf den wunden Punkt zu drücken, muss vermutlich das eigentliche Erlebnis dieser Performance sehr deutlich schmerzen, damit auch schwerfällig Begriffliche den Tritt sicher spüren.
Grenzfall
Es stehen tatsächlich vier Tanzende auf der Bühne von Nicole Seilers «Shiver». Aber ihre Funktion ist reduziert auf eine rein zudienende. Die einfach erkennbare Absicht liegt in der Herstellung von kriminalistischer Spannung bis hin ins Horrorfach. Dazu verwendet Nicole Seiler eine ausgeklügelte – und von aussen in der Funktionsweise nicht restlos nachvollziehbare – Pixelprojektion, in der die Tanzenden die Projektionsfläche bilden. Einmal bewegen sie sich an eine gallertartige Masse erinnernd im Körperknäuel über die Bühne, einmal sind sie als Einzelne erkennbar, müssen sich aber dermassen strikt an den repetitiven Zeit- und Bewegungsablauf halten, dass einen zuletzt Assoziationen zu Ausdruck oder Virtuosität der Tanzsprache in den Sinn kämen. Viel näher liegt da das Monotone von Fliessbandarbeit, die sich auch im Dienste eines übergeordneten Ganzen in der Wiederholung erschöpft. Das beabsichtigte Resultat der Herstellung von Suspense gelingt mit der Musikauswahl, vor allem aber mit den beängstigend unverortbaren Formen der projizierten Figuren sehr wohl. Obschon sehr konzeptig, schafft es «Shiver», dieses zwar sichtbar zu machen und dennoch in den Betrachtenden die Emotion anzuspielen, was eine nicht zu unterschätzende Schwierigkeit darstellt.
Komplett in nochmals eine weitere Richtung des Auslotens der Grenzen von Tanz forscht wiederum József Trefeli mit Mike Winter in «UP»: die Banalität. Der durchaus existierenden Tendenz, konzeptig, inhalts- oder wenigstens bedeutungsschwer Tanz zu produzieren, stellen die beiden eine Simplizität in der Bewegung gegenüber, die einen in ihrer Grenzwertigkeit in eine grosse Ambivalenz stürzt. Sechs Tänzer demonstrieren letztlich einzig eine sich zwischen Zirkusakrobatik, Kraftsport und Showtanz bewegende Choreographie von diversen Hebeübungen. Die gewählten Musikstücke unterstreichen den Eindruck einer exaltiert dargestellten Nur-Fröhlichkeit, eines Happy-Gefühls ohne Ending. Soll man sich von dieser Schlichtheit in der Freude anstecken lassen, sie vielleicht sogar mit einem ironischen Blick unterfüttern und sich darüber belustigend amüsieren oder sich auf der gegenüberliegenden Seite ein klein wenig langweilen oder sich gar echauffieren, wie sich diese sechs Männer in Bubenspielen –
inklusive Superheldendasein mit Cape und der Fähigkeit, zu fliegen – verlieren und dabei sichtlich Spass haben? Nach ungefähr zwei Dritteln kippt die gesamte Anlage. Die Kostüme wechseln von grellbunt in graugrün und der Bubentraum verändert sich in Richtung interstellarer Faszination, was das ausgeklügelte Lichtkonzept unterstreicht. Aber der Bruch ist so stark, dass die beiden Teile weniger ein Ganzes bilden, als zwei verschiedene Arten von Träumerei hintereinander meinen.
Prozess als Aufführung
Weniger im Sinn einer Wertung, sondern vielmehr als Ausdruck eines gewissen Unvermögens, das Interessierende daran zu erkennen, habe ich «Les animaux» der Cie. Nuna als «typische Roger Merguin-Produktion» benannt, was nicht überall sofort auf Verständnis stiess. In den Jahren, seit er die Geschicke der Gessnerallee leitet, waren bereits mehrfach tänzerische Prozess-Erforschungen auf den Bühnen des Hauses zu sehen, die viel mehr Experiment unter realen Produktionsbedingungen vor Publikum waren, als Präsentationen eines Resultats. Früher war das auch das hauptsächliche Konzept der Reihe «DaTanzDa» von Angelika Ächter und Anne Rosset im Tanzhaus. Vermutlich benötigte es schlicht einer weiteren Brille, als bloss jene des Kritikers, um in derartiger Auslotung des Prozesshaften einen Ansatz herausziehen zu können, der einem etwas gibt/sagt/bringt.
Mit dem Erkennen des eigenen Unvermögens ist immerhin der erste Schritt getan, die Bemühung nicht simpel als verunglückt einzustufen und damit die vielleicht darin enthaltenen spannenden Ansätze öffentlich zu negieren.
Eine ganz andere Lesart des Prozesshaften ist das Solo von Yasmine Hugonnet mit dem Titel «Le récital des postures». Hier ist eine grosse Nähe zur Bildenden Kunst augenscheinlich, denn sie nutzt ihren Körper regelrecht als Instrument, betreibt also Performance im ursprünglichen Sinn. Tonlos und hochkonzentriert bietet sich einem die Bühne als schneeweisses Labor an. Darin eine in sich selber verknotete Person, die ihre Glieder in ultra-slowmotion bewegt und sehr grafische Figuren herstellt. Mit dieser konzentrierten Entschleunigung gelingt es ihr, die im Rahmen eines Festivals auf effiziente Reizverarbeitung eingestellte eigene Grundspannung bis nahe einer gefühlten Gelassenheit herunterzufahren. Es ist ein Spiel mit dem Körper, das viel näher bei abstrakter Malerei liegt, als bei einer Erwartung von Tanz.
Ebenfalls im ursprünglichen Sinne von Performance bewegen sich Marius Schaffter & Gregory Stauffer mit ihrem «Cabinet des curiosités». Sie eignen sich beispielsweise Bilder fremder Maler an, die sie auf Flohmärkten erstehen und vielleicht figurativ ergänzen oder aber einfach schlicht signieren und erklären das zur Kunst. Oder sie adaptieren Wohlfühl-Workshops für die gestresste Konsumseele mit deutlich esoterischem Einschlag und befächern jeden Zuschauenden einzeln mit einer Essenz von Zitrone. Aber sie sind auch prima Musiker, verstecken diese Fähigkeit aber gekonnt hinter Narrengehampel. Aber auch die bare Herstellung von Grazie kommt in der Bearbeitung dieser beiden Herren vornehmlich lachhaft heraus. Gerade weil sie ihr Duo mit solch offensichtlich inbrünstig zelebriertem Pathos aufladen, dass eine kritiklose Bewunderung ihres Bewegungsrepertoires einen gleich selbst beschämen würde. Sie machen letztlich ein einziges Affentheater, das aber transparent und mit offenem Visier.
Einsame Spitze
Auf der privaten Bestenliste zuoberst thront – entgegen der besuchten Durchführung vor vier Jahren in Bern, wo sich keine Produktion dergestalt von den anderen abhob – mit Abstand eine einzige Produktion: «La Nuit transfigurée» von Philippe Saire. In Anbetracht der ‹Konkurrenz› könnte man dieses Tanzstück als nachgerade konventionell beschreiben. Aber Handwerk, Dramaturgie, die Wahl der Tanzenden (inklusive des einen, kleinen, der so überhaupt nicht zum Rest passt, also einen Kontrapunkt darstellt), Musik wie Bühnenbild, das Changieren der Tempi, die allgemeine Lesbarkeit und das in sich geschlossene Aufgehen des Abends in sich, sind insgesamt alles, was es benötigt, um in restlose Begeisterung zu verfallen. Obschon mit «Deer Visions» von Marco Goecke am Opernhaus Zürich die Hirsch-Thematik bereits herausragend und originär zu sehen war, kommt einen der Direktvergleich während des Zusehens nur in der Theorie in den Sinn. Denn Philippe Saire schafft es, selbst wenn im eigenen Kopf diese Position bereits mit restlosem Zuspruch scheinbar besetzt ist, durch seine komplett verschiedene Bearbeitung eine gleichwohl unbedingt funktionierende Umsetzung des ähnlich verorteten Themas zu finden. Hier dominiert eine frohe Zerbrechlichkeit, ein ausgesprochener Spieltrieb, der beispielsweise den Vorhang auf der Rückseite der Bühne genauso mit einbezieht, wie die über allem zwischen Drohung und Verheissung hängenden Geweihe. Über zahllose von Saires Momenten hab ich spontan gelacht, wie etwa wenn sich zwei physiologisch ähnliche Männer in der Manier des Beweisfotos früherer Grosswildjagden hinstellen und den dritten am Hosenbund in die Höhe halten. Aber die spassigen Momente allein sind es nicht. Sondern die Kombination mit der Herstellung barer Grazie, dem reichhaltigen Angebot an Assoziationen zu realen Momenten und nicht zuletzt der Wahl der Musik, die ebenso wie die Besetzung der Compagnie eine Hauptrichtung, der titelgebenden Komposition von Arnold Schönberg und einen Kontrapunkt von Antonio Vivaldi hat. Dieses Zusammenspiel von Spannungen aus diversen Richtungen in den verschiedenen Medien ist im Resultat klug, schön und ein Paradebeispiel für Tanz auf ausnehmend hohem Niveau.
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