Von verwildernder Kultur

 

Gern rühmen wir unsere Berge als Herzstück der Schweiz. Werden die dortigen Kulturlandschaften auch entsprechend behandelt? Werner Bätzing, der im Alpenraum noch immer viel «gutes Leben» ortet, gibt die Hoffnung einer europäischen Modellregion nicht auf.

 

Hans Steiger

 

Zwei neue Bücher des jetzt emeritierten Kulturgeographen zeigen anhand der Alpen exemplarisch, wie «weltoffen und heimatverbunden» – so verkauft derzeit die SVP ihren Ständeratskandidaten – in grünroter Variante aussehen könnte: Ökosozial, nachhaltig, ernsthaft, nicht provinziell propagandistisch. Gleichzeitig warnt er vor den Gefahren für diesen prekärsten europäischen Raum, wenn gegenwärtige Trends weiter laufen. Eine doppelte Verwilderung zeichnet sich ab – ökologisch wie kulturell. Letzteres zeigt «Hinter den Bergen» von Lois Hechenblaikner mit seiner prägnanten Gegenüberstellung von Fotopaaren aus dem Tirol. Die ideale Ergänzung zur wissenschaftlichen Analyse.

 

Grosse Chance (fast) verspielt

In der Sommersession überwies der Nationalrat als zweite Kammer diskussionslos eine SP-Motion, die vom Bundesrat verlangt, «international eine Führungsrolle» einzunehmen, «wenn es um Berge geht.» Da sei «nachhaltige Entwicklung» von besonderer Bedeutung, und die Schweiz müsse «ein jahrzehntelanges Engagement» weiterführen. Nur zu gern würde ich begeistert applaudieren. Doch die Rückblende in der «Streitschrift zur Zukunft der Alpen», die Werner Bätzing bei Rotpunkt publiziert hat, erinnert schmerzlich daran, welch traurige Rolle genau dieses Parlament beim Umsetzen beziehungsweise beim Blockieren der internationalen Alpenkonvention «zum Schutz der Alpen» gespielt hat.

Diese internationale Übereinkunft kam 1989 nach intensiven Vorarbeiten zustande. Sie sollte auch politische Wege für alternative regionale Entwicklungen öffnen. Im folgenden Jahrzehnt wurden diese für die wichtigsten Teilbereiche in «Protokollen» skizziert und konkretisiert: Naturschutz und Landschaftspflege, Berglandwirtschaft, Raumplanung und nachhaltige Entwicklung, Bergwald, Tourismus, Energie, Bodenschutz, Verkehr…

Auch eine Deklaration über «Bevölkerung und Kultur» liegt vor sowie eine gemeinsame Einschätzung der Perspektiven mit Blick auf den Klimawandel. In diesen Denkprozessen wurden Grenzen überschritten, nicht nur die nationalen, auch die von Fachbereichen. Einseitig ökonomisches Denken wurde hinterfragt, Werte neben dem Geld neu gewichtet, «kulturelle Werte» im weitesten Sinn.

 

Ein «limitierter Raum mit zahlreichen Nutzungsgrenzen» zeige eben besonders deutlich, dass permanentes quantitatives Wachstum unmöglich ist, führt Bätzing als Erklärung für die erstaunlichen Pionierleistungen an. Mitten in Europa zeigte das «Frühwarnsystem», welches die Bergebiete darstellen, dass es Richtungsänderungen braucht: «In den Alpen als einem extremen Naturraum und einem spezifischen Kulturraum entwickeln zentrale Probleme der Moderne – Natur als Material, Wirtschaft als Selbstzweck, menschliches Leben als Inszenierung – schnell eine Tendenz hin zur Selbstzerstörung und lassen sich nicht mehr verdrängen.» Basisinitiativen entstanden, Gemeinden wurden aktiv, brachten sogar staatliche Stellen in Bewegung. Wie etwa die Alpenschutz-Initiative in der Schweiz bewies, sind für entsprechende Forderungen auch Mehrheiten zu gewinnen.

 

«Unzeitgemässes» wieder beleben

Wir waren in diesem Bereich um die Jahrtausendwende relativ weit. Auf der politischen Ebene hatten sich die Alpen als «gemeinsamer Raum in Europa konstituiert», so Bätzing, «und da die Alpenkonvention dem Gedanken der nachhaltigen Entwicklung verpflichtet ist, ist sie der adäquateste Träger für die wünschenswerte Alpenentwicklung». Früher standen dem koordinierten Aufbruch starre Staatsgrenzen im Wege; für viele Vorhaben waren die nationalen Alpenteilräume zu klein. Obwohl die Lösungen immer von lokalen Verhältnissen ausgehen müssen, stehen wir aber «alpenweit jeweils vor ganz ähnlichen Herausforderungen». Bei einem einheitlichen Auftreten wäre die Region mit fast 200 000 Quadratkilometer Fläche und 15 Millionen Menschen gross genug, um ihre Interessen zu vertreten und sich nicht weiter als «Ergänzungsraum der Metropolen» behandeln zu lassen.

Doch der Elan wurde durch fehlenden politischen Willen im Grossen wie im Kleinen bald wieder gebremst. Im neoliberalen Regime gelten andere Prioritäten, und in einer auf ein reines Krisenmanagement reduzierten Tagespolitik wurde das Vernünftigste – wie eben die Schaffung oder Stärkung eines «dezentralen Lebens- und Wirtschaftsraums» in den Alpen – plötzlich «unzeitgemäss», wie Bätzing bitter feststellt. Wobei die Situation in den einzelnen Ländern «sehr unterschiedlich» sei.

 

Derzeit denke Österreich am wenigsten daran, staatliche Infrastrukturen im Berggebiet infrage zu stellen. «An der Spitze des neoliberalen Denkens in den Alpen steht die Schweiz.» Hier habe zwar der «Kernraum der helvetischen Identität» in der Bundesverfassung einen hohen Stellenwert, aber in Studien taucht inzwischen neben wirtschaftlich vernetzten Stadtregionen eine «alpine Brache» auf, in der sich Investitionen nicht mehr lohnen, weil dort «keine relevanten Innovationen» erwartet werden.

Dabei sind gerade da nachhaltige Ansätze zu finden, die über unsere aktuellen Krisen hinausweisen. «Diese ganz andere Wirtschafts- und Lebensform kann sich aber nicht erst entwickeln, wenn die moderne Welt völlig zusammengebrochen ist, denn dann wären die alpenspezifischen Ressourcen längst nicht mehr nutzbar.» In den Bergen schreiten Zerfallsprozesse schnell voran. Flächen, Erfahrungen und Infrastrukturen verschwinden, wenn deren Pflege aufgegeben wird. Darum greift der Autor in seinem Ausblick das «Unzeitgemässe» wieder auf. Für ihn bleiben die im alpinen Raum selbst erarbeiteten Entwicklungskonzepte die überzeugendsten. Er sieht sie als Modell, das weiter ausstrahlen könnte. Der unterbrochene Aufbruch ist im Zusammenspiel mit alternativen Kräften anderer Regionen fortzusetzen.

 

Szenarien alpiner Unwirtlichkeit

Bleibt es bei den gegenwärtigen «Zeitgeist-Perspektiven», würde die Zukunft der Alpen nach seiner Einschätzung «furchtbar». Menschen «leben eine fingierte Idylle», weitgehend fremdbestimmt, massive ökologische Probleme werden durch den massiven Einsatz von Technik zu lösen versucht. Es droht eine doppelte «Verwilderung», in der Natur, bei der Kultur.

Einerseits die Gebiete, welche mit grosszügiger grüner Geste wieder vorab den Tieren überlassen blieben. Vermeintlich paradiesisch. Auch dazu finden sich Szenarien; schön wäre in dieser Wildnis nach dem Verwalden wohl wenig bis nichts. Anderseits der erwähnte «Ergänzungsraum» für die Metropolen mit optimierter, meist monofunktionaler Nutzung. Wieder einmal taucht der in diesem Fall besonders treffende, früher eher für Städte verwendete Begriff der «Unwirtlichkeit» auf. In den Bergen bliebe, soweit noch zugänglich und vermarktbar, ein «beziehungsloses Nebeneinander». Die permanente Steigerung touristischer Attraktionen durch immer exzentrischere Angebote sei ein Wahnsinn, der nur in einem «Erlebnis-Burnout» enden könne.

Dazu liefert «Hinter den Bergen», ein Fotobuch von Lois Hechenblaikner, die perfekte Illustrierung. Schauplatz ist bei ihm das Tirol, insbesondere das Alpbachtal, wo der 1958 geborene Bildkünstler aufwuchs. Nachdem er fast zwei Jahrzehnte zumeist in Asien als Reisefotograf tätig war, setzt er sich seit den 1990er Jahren auf verschiedenste Weise mit dem tourismusbedingten Wandel seiner Heimat auseinander.

 

Antrieb sei dabei, steht auf der Website des Verlages, ein «äusserst fruchtbarer Humor der Verzweiflung». Bei der Motivsuche für die vorliegende polemische Collage war eine Kollektion alter Fotos der Ausgangspunkt. Sie fand sich im Nachlass von Agraringenieur Armin Kniely. Dieser hatte ab den 30er-Jahren mit unzähligen Schwarzweiss-Aufnahmen die Arbeits- und Lebenswelt sowie das Brauchtum der ländlichen Region dokumentiert. Bergbauern bei mühsamer Feldarbeit, in ihren Ställen und Häusern eine gewisse Karghkeit. Aber eben nicht nur. Da waren auch Festlichkeit und ‹gutes Leben› im Sinne von Bätzing. Es ist keine billige Nostalgie, die einen beim Betrachten anrührt. Die in Farbe dazugestellten Gegenbilder wirken nicht reich, bloss mit Gerät überstellt, lärmend, kommerziell nach Aufmerksamkeit schreiend.

Beim ersten Blick scheinen vorab Formen, äusserliche Parallelen das Kriterium für die Auswahl gewesen zu sein. Drei alte Spinnräder, drei Räder im Fittnessraum, mit je drei Frauen. Oder ein Käselaib und ein Pneu, präsentiert von stolzen Männern. Die ungleich-gleichen Paarungen überraschen, eine nach der andern, und das Ganze erweist sich je länger je mehr als durchdacht, überzeugt auch als Kunst, als eingreifende Kunst. Was mich daran so ungemein packt, trotzt einer Beschreibung. Sie wäre zu banal: Heu oder Abfälle zusammenrechen. Lauf- und Absperrgitter.

Wolfgang Ullrich, der einen knappen Kommentar beisteuert, hat recht: Hier sagen «zwei Bilder mehr als tausend Worte». Es geht nicht nur um ein Vorher und Nachher; auch die Aufforderung des mit Medientheorie vertrauten Professors, die Kontraste nicht allzu einseitig zu sehen, gilt: Beschaulichkeit gegen Massenevent. Ernst und Strenge gegen Albernheit und Ausgelassenheit. «Ist es nicht auch ein Zeichen von Freiheit und Wohlstand – und damit sogar von Fortschritt –, wenn die Menschen ihre Laune heute ausleben können und nicht länger ein enges, allein von Armut und Notwendigkeiten bestimmtes Leben führen müssen?»

 

Bestandesaufnahme der Bergkultur

Zurück zu Bätzing, der selbstverständlich auch nicht für Armut, sondern für den Erhalt eines anders verstandenen Reichtums und von Vielfalt plädiert. Parallel zur schmalen Streitschrift, die durchaus als Notruf gelesen werden kann und sollte, ist die nun vierte, «völlig überarbeitete und erweiterte Auflage» seines fundiertesten und schönsten Buches zum Lebensthema erschienen: «Die Alpen».

Reinhold Messner bemerkt dazu werbend, Werner Bätzing sei der «bedeutendste Sprecher jener Bergkultur, von der die Zukunft der Alpen abhängt». Was in der aktuell argumentierenden Publikation zu den Werten, die auf dem Spiel stehen, nur angetippt werden kann, ist hier breiter ausgeführt. Auch die Vergangenheit kommt zum Zug. Kurz die Geburt des «jungen Hochgebirges», frühe Formen der menschlichen Nutzung, «die Blüte von Wirtschaft und Kultur im Mittelalter», die Umgestaltung der Ökosysteme, der Zusammenbruch der traditionellen Alpenwelt in der Moderne. Stets ist die Beschreibung mit dem Versuch verbunden, Resultate des Wandels zu bilanzieren. Die letzte «Gesamtbilanz» klingt im Titel apodiktisch: «Die Alpen verschwinden als spezifischer Lebensraum». Doch sie mündet in die Frage, ob noch «Alternativen denkbar» bleiben.

 

Ganz scheint die Hoffnung des Autors nicht gebrochen. Es gibt nach wie vor Projekte, die alpenspezifische Ressourcen nutzen, daraus neue Qualitätsprodukte entwickeln. «Sie werden teilweise an peripheren Standorten realisiert und zeigen, dass hier selbst heute wirtschaftliche Potentiale existieren.» Die treibenden Kräfte seien dabei meist Einzelne, denen es «auf die unterschiedlichste Weise gelingt, traditionelle und moderne Werte in einer Person produktiv zu verbinden».

Zwar reicht das nicht: Wenn solche Initiativen «quer zu den Grundstrukturen des gegenwärtigen Handelns und Wirtschaftens liegen», sind die Reibungsverluste zu gross. Also geht es im letzten Teil des Buches erneut um den «positiven Rahmen, in dem sie sich bewegen und miteinander vernetzen können». Krisen, und von denen sind im Abschnitt zu den Chancen von «Trendbrüchen» viele aufgelistet, könnten die beim ersten Krisengewitter weggedrängte Perspektive einer nachhaltigen Alpenregion wieder attraktiv machen.

 

Ferienentscheid für «gute Orte»

Wer bereits nach der Lektüre des Rotpunkt-Bändchens genug von Problemen und von Alpenanalyse hat, wird kaum nach diesem dicken Buch greifen, auch nicht nach dem Band, in dem Bätzing grundsätzlicher über «Orte guten Lebens» nachdenkt und seine Vision von Alpen «jenseits von Übernutzung und Idyll» präziser beschreibt – sie oder er findet bei Rotpunkt auch Bücher, die «umwelt- und sozialverträglichen Wandertourismus in wirtschaftsschwachen Alpenregionen» praktisch fördern wollen. Zwei der neusten, an denen Bätzing selbst beteiligt ist, führen in die niederösterreichischen Kalkalpen sowie ins Piemont. Dass da, was die Hintergrundinformation betrifft, aus dem Vollen geschöpft wird, liegt auf der Hand. Aber das gilt für die Naturpunkt-Reihe, mit der im Programm des linken Verlages nicht zufällig in den 1990er Jahren ein zusätzlicher Schwerpunkt gesetzt wurde, eigentlich immer.

In diesen Tagen erschien gerade das jüngste Buch der Serie mit dem grünen Punkt: Andreas Weissen lädt zum «Naturparkwandern ohne Grenzen zwischen Wallis und Piemont» ein. Ich kann es unbesehen empfehlen. Weissen kennt sich in der Gegend aus. Wer ihn – etwa im Zuge des Kampfes um die Alpeninitiative und den Alpenschutz, vor dem Ja und in den langen Jahren danach – kennen und schätzen lernte, traut dem begnadeten Erzähler von alten Sagen mit aktuellen Bezügen auch als Autor über den Weg. Und die Zeit naht, Ferien zu planen. Möglichst nahe. Dass der Apéro nach der Buchvernissage in Binn im genossenschaftlich betriebenen Hotel Ofenhorn stattfand, könnte bereits der erste Tipp sein.

 

Werner Bätzing: Zwischen Wildnis und Freizeitpark. Eine Streitschrift zur Zukunft der Alpen. Rotpunktverlag, Zürich 2015, 145 Seiten, 11 Franken.
Lois Hechenblaikner: Hinter den Bergen. Steidl, Göttingen 2015, 144 Seiten mit Fotos sowie Kurztexten, 24 Euro. 
Beispiele von Fotopaaren via www.steidl.de
Werner Bätzing: Die Alpen. Geschichte und Zukunft einer europäischen Kulturlandschaft. Verlag C.H. Beck, München, Neuausgabe 2015, 488 Seiten mit Abbildungen, Karten und Tabellen, 39 Euro. www.wanderweb.ch

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