Vom Weggehen und Ankommen

Der eine war Flüchtling und wurde Küchenchef, Feuerwehrmann und SP-Politiker. Der andere fing als Lokalreporter an und berichtet heute als Lateinamerikakorrespondent aus Brasilien. Das neue Pro-Sihltal-Jahrheft ist voller (Lebens)-Geschichten von Menschen aus aller Welt, die es ins Sihltal verschlagen hat oder die das Sihltal verlassen haben, um draussen in der weiten Welt ihr Glück zu versuchen.

 

von Arthur Schäppi*

 

«Von nichts kommt nichts» – der Ausspruch gilt als typisch schweizerisch. Auch der 51jährige Kurde Sait Acar aus Adliswil kennt ihn und hat ihn verinnerlicht. Und auch er ist Schweizer – seit seiner erleichterten Einbürgerung im Jahre 1996. Doch in seinem Leben war und ist das geflügelte Wort, wonach von nichts auch nichts kommt, mehr als bloss eine Plattitüde. Im eben erschienenen Jahrheft 2020 des Vereins Pro Sihltal, das dem Thema «Sihltaler in der Welt – die Welt im Sihltal» gewidmet ist, erzählt er seine spannende Migrations- und Integrationsgeschichte. «Um zu zeigen, dass Integration sehr wohl funktionieren kann», wie er am Schluss resümiert. Nämlich dann, wenn man selber den Willen dazu habe und wenn man auch wirklich eine Chance dazu bekomme.

 

Von der Asylunterkunft ins Parlament

 

Eindrücklich schildert der geschiedene Vater zweier erwachsener Kinder, der seit vielen Jahren mit seiner neuen Lebenspartnerin in Adliswil zu Hause ist, wie er 1989 als 20-jähriger Mann seine Heimat in Anatolien in der Türkei, wo er zur ethnischen Minderheit der Kurden gehörte, verliess, um in der Schweiz Asyl zu beantragen. Und auch, wie er anfänglich in einer Asylunterkunft in Zürich-Affoltern wohnte, Deutschunterricht bekam, als Tellerwäscher im Seespital Kilchberg anfing und man ihm dann – trotz unzureichender Deutschkenntnisse – eine Kochlehre ermöglichte. Später arbeitete er sich hoch – bis zum Küchenchef im Alterswohnheim Wisliacher in Zürich-Witikon.

Von allem Anfang an habe er sich schnell integrieren wollen, «um niemandem auf der Tasche zu liegen», aber auch, um die hiesigen Gepflogenheiten kennen zu lernen, sagt Sait Acar. Lebhaft erinnert er sich noch daran, wie ihn 1998 ein benachbarter Feuerwehroffizier kontaktiert hatte und wie er dann, «als damals noch einziger Schweizer mit Migrationshintergrund, der Feuerwehr Adliswil beitreten durfte».

 

 

Auch nach über zwei Jahrzehnten bedeutet dem einstmaligen Flüchtling der Feuerwehrdienst noch immer viel, «weil ich damit der Bevölkerung etwas zurückgeben kann». Vor rund zwanzig Jahren war auch die SP Adliswil auf den kurdisch-schweizerischen Mitbürger aufmerksam geworden. Das Angebot zum Parteieintritt nahm Sait Acar gerne an. Freilich unter der Bedingung, dass er auch etwas bewirken könne und als Gemeinderat kandidieren dürfe. Seit 2002 sitzt Acar für die SP-Fraktion im Stadtparlament, und «etwas bewirken» konnte er dort schon bei seinem allerersten Auftritt, als er erfolgreich den Wunsch der Feuerwehr nach einem neuen Depot vertrat. «Es waren alle 150 Feuerwehrfrauen und -männer anwesend, und sie begleiteten meine Rede mit tosendem Applaus». Im Stadtparlament politisiert der einstmalige Asylbewerber noch immer – und er gehört mittlerweile auch der Einbürgerungskommission an.

 

Theater um Integration

 

Buchstäblich ein Theater um die Integration und die verschiedensten Aspekte dazu aber veranstaltet die Adliswilerin Brigitte Schmidlin. Als Regisseurin und Theaterpädagogin zusammen mit rund 40 Flüchtlingen und einigen SchweizerInnen. Ihr ungewöhnliches Theater- und Integrationsprojekt hat zum Ziel, «Ängste und gegenseitige Vorurteile zwischen Flüchtlingen und Einheimischen abzubauen», wie es im Heft heisst. Diverse Porträts über AusländerInnen in Langnau und Adliswil geben sodann Einblick in deren Alltag und zeigen auf, wie sie hier zurechtkommen. Für einen spannenden Perspektivenwechsel sorgen Berichte von oder über AuswandererInnen aus dem Sihltal. Zu ihnen gehört auch Tjerk Brühwiller, der während dem Studium als Lokalreporter beim ‹Sihltaler› angefangen hatte und der 2009 dann mit seiner damaligen brasilianischen Freundin und heutigen Frau in deren Heimat auswanderte – «mit nichts in der Hand ausser der Zusage, gelegentlich für die NZZ schreiben zu können». Brühwiller wurde Lateinamerikakorrespondent, erst für die NZZ, dann für die ‹Frankfurter Allgemeine Zeitung›. Von seiner Wahlheimat sagt er, dass sie bunt und laut, fröhlich und traurig und für ihn auch nach über zehn Jahren noch immer «unergründlich» geblieben sei. 

 

Bei der Lektüre in eine andere Welt eintauchen kann man auch mit Isabella Myllykoski-Rossi, die mit ihrer Familie auf einem finnischen Archipel in der Ostsee lebt. Andernorts im Heft erfährt man beispielsweise, dass Adliswil einen Ausländeranteil von 36 Prozent aufweist und dass die über 200 InderInnen dort die sechstgrösste Einwanderergruppe von total 116 Nationen bilden. Oder dass in Adliswil der einzige holländische Spezialitätenladen der Schweiz steht. Das Pro-Sihltal-Heft 2020 kostet Fr. 16.- und ist erhältlich unter:  www.prosihltal.ch

 

 

* Arthur Schäppi ist freier Mitarbeiter des Pro-Sihltal-Heftes

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