- Im Gespräch
Vom Wallis in die Wellen des Widerstands
Sie haben sich im Lauf Ihres Lebens viel mit den Geschichten anderer Frauen auseinandergesetzt. Wie ist es, wenn plötzlich die eigene Geschichte im Fokus steht?
Elisabeth Joris: Es war schon ein spezielles Erlebnis, mir selbst so gegenüberzustehen. Und intensiv war es: Die Autorin Denise Schmid und ich haben 70 Stunden Gespräche geführt und uns Kapitel für Kapitel durch mein Leben geackert. Wobei man sagen muss, dass am Ende sie das Narrativ bestimmt hat und nicht ich.
Warum ist das wichtig?
Ich hätte vielleicht gewisse Akzente anders gesetzt.
Zum Beispiel?
Den Teil über meine Herkunft hätte ich wohl kürzer gefasst und das Politische oder meine Arbeit als Historikerin breiter ausgeführt, weil mir das im Moment näher steht und wichtiger erscheint. Aber diese Wahrnehmung ist subjektiv, das muss man aushalten. Schliesslich bin nicht ich die Autorin, sondern Denise Schmid.
Trotzdem ist das Buch in der Ich-Form geschrieben.
Ja, diese Entscheidung haben wir während des Schreibprozesses getroffen. Eine direkte Erzählform ist lebhafter als eine Aneinanderreihung von Anführungs- und Schlusszeichen. Anfangs habe ich damit gerungen, das «Ich» aus der Hand zu geben, aber ich habe mich daran gewöhnt.
Sie haben 70 Stunden lang Ihr Leben gespiegelt. Welches Kapitel davon war – bis jetzt – das prägendste?
Ich bin in dem damals 3000 Personen zählenden Oberwalliser Dorf Visp aufgewachsen, wo traditionelle Rollenbilder für Frauen tief verankert waren. Ich wurde ab dem Kindergarten von Nonnen unterrichtet, Turnvereine standen nur Knaben offen, ebenso die Skirennen der Schule, aber auch das Gymnasium. Diese begrenzten Möglichkeiten haben mein frühes Leben stark geprägt. Meine Mutter hatte, obwohl sie selbst das Wallis nie verliess, stets betont, wie wichtig es sei, weltoffen zu bleiben. Sie bestand darauf, dass ich mein Englisch verbessere, und so bin ich nach der Handelsschule als Au-pair nach London gekommen. Dieses Weggehen hat mir geholfen, meinen Horizont zu erweitern und meinen eigenen Kurs zu setzen.
Sie haben selbst zahlreiche Bücher und wissenschaftliche Beiträge verfasst, jetzt wurde ein Buch über Sie geschrieben, Ihr Wohnzimmer ist gefüllt mit ebenso vollen Bücherregalen – welche Rolle spielt Literatur in Ihrem politischen Engagement, und wie hat sie Ihre feministischen Ansichten geformt?
Literatur hat eine grosse Rolle in meiner Entwicklung gespielt, besonders in meiner Auseinandersetzung mit feministischen Inhalten. Es waren literarische und philosophische Texte von Jean Prévert, Camus und Sartre, später die feministische Literatur aus Amerika und Europa, u.a. von Joan W. Scott und Gisela Bock, die mir das Fundament gaben, um gesellschaftliche Strukturen zu hinterfragen. Diese Bücher haben mir gezeigt, wie tief verankert die Diskriminierung von Frauen ist und dass wir sie aufbrechen müssen. Besonders die internationale Perspektive hat mir geholfen, nicht nur die lokalen Herausforderungen in der Schweiz zu sehen, sondern den Kampf für Gleichberechtigung in einem grösseren, globalen Kontext zu verstehen.
Warum war und ist der globale Kontext für den feministischen Kampf wichtig?
Der transnationale Impuls war in vielen feministischen Kämpfen entscheidend. Ein gutes Beispiel ist die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Um diese zu ratifizieren musste die Schweiz das Frauenstimmrecht einführen, also unter Druck von aussen. Ohne diesen externen Einfluss wären viele Fortschritte, die heute als selbstverständlich gelten, wahrscheinlich nicht erreicht worden. Feministische Bewegungen haben oft von internationalen Entwicklungen profitiert, weil sie nationale Grenzen überwinden und globale Solidarität ermöglichen. Aber das gilt nicht nur für den feministischen Kampf und nicht nur für die Vergangenheit. Die Grenzen der Nationen sind zufällig entstanden, und die grossen Herausforderungen unserer Zeit, wie der Klimawandel oder Migration, machen nicht an diesen Grenzen halt. Unser Engagement als Klimaseniorinnen zeigt das sehr deutlich. Uns geht es nicht um unsere eigene Gesundheit, sondern um die Schäden, die der Klimawandel weltweit verursacht – besonders auch im globalen Süden. Dort tragen Menschen die Hauptlast dieser Krise. Diese globalen Kämpfe können nicht allein auf nationaler Ebene geführt werden, sie erfordern eine transnationale Antwort.
«Feministische Bewegungen haben oft von internationalen Entwicklungen profitiert, weil sie nationale Grenzen überwinden und globale Solidarität ermöglichen.»
Elisabeth Joris
Wo wir gerade beim Verknüpfen von Vergangenheit und Gegenwart sind: Sie sind ein Kind der zweiten feministischen Welle, und ein Teil ihrer damaligen Mitstreiterinnen sträubt sich gegen neue feministische Strömungen wie Queerfeminismus und Intersektionalität. Wie erleben Sie diese Spannungen? Beissen sich die Inhalte der alten Wellen mit den Inhalten der neuen?
Es ist kein Widerspruch, die alten Kämpfe weiterzuführen und gleichzeitig neue Themen zu integrieren. Aber es gibt Spannungen, das lässt sich nicht leugnen. Viele meiner Mitstreiterinnen aus der zweiten feministischen Welle haben sich stark auf den Kampf um Gleichberechtigung und den Schutz von Frauen konzentriert. Es ging um fundamentale Rechte, wie das Frauenstimmrecht und das Recht auf Abtreibung, aber auch um Schutz vor Gewalt. Diese Kämpfe sind nach wie vor wichtig, und sie prägen viele von uns bis heute. Die Frage, wo Frauen in einer von Männern dominierten Welt Schutz finden können, war ein zentraler Punkt in unserer Bewegung. Heute stehen neue Themen im Zentrum, und das verändert die Debatte. Die alten Fragen, wie etwa der Schutz von Frauen, treffen auf neue Fragen: Was ist eine «Frau»? Wer gehört dazu? Das kann sich durchaus beissen. Wenn wir über geschützte Räume für Frauen sprechen, wird es kompliziert, wenn die Definition von «Frau» selbst infrage gestellt wird. Ich persönlich verschliesse mich diesen neuen Fragestellungen nicht. Der Feminismus hat sich immer weiterentwickelt, und das ist seine Stärke. Aber diese Spannungen sind da, und wir müssen sie aushalten.
Apropos Spannungen: Marine Le Pen, Giorgia Meloni, Alice Weidel – haben diese Frauen ihren politischen Erfolg eigentlich auch dem Feminismus zu verdanken?
In gewisser Weise ja. Der Erfolg von Frauen wie Le Pen, Weidel oder Meloni wäre ohne die feministischen Kämpfe der vergangenen Jahrzehnte kaum denkbar gewesen. Der Feminismus hat Frauen den Weg in die Politik geebnet und ihnen ermöglicht, Führungsrollen in einer von Männern dominierten Welt einzunehmen. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie die Inhalte des Feminismus vertreten oder voranbringen. Diese Politikerinnen nutzen die Früchte der feministischen Kämpfe, aber sie arbeiten oft gegen die Grundprinzipien der Bewegung. Sie setzen sich für Positionen ein, die die Rechte und Freiheiten anderer Frauen – besonders von Migrantinnen und Frauen aus marginalisierten Gruppen – einschränken.
Und sie bedienen sich dabei gerne vermeintlich feministischer Rhetorik.
Das ist eine sehr besorgniserregende Entwicklung. Dieser Femonationalismus instrumentalisiert feministische Argumente, um rassistische oder fremdenfeindliche Ideologien zu legitimieren, besonders im Kontext von Migration. Plötzlich geht es nicht mehr darum, die Rechte von Frauen universell zu verteidigen, sondern darum, sie gegen bestimmte Gruppen auszuspielen. Wenn Politikerinnen wie Le Pen oder Weidel vom Schutz der Frauen sprechen, meinen sie den Schutz weisser Frauen vor ‹fremden› Bedrohungen. Feminismus bedeutet, für die Rechte und den Schutz aller Frauen zu kämpfen, unabhängig von ihrer Herkunft oder Hautfarbe. Und Frauenrechte als Waffe gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen zu missbrauchen, untergräbt den Kern des Feminismus. Für mich ist das eine ernste Gefahr, weil es die Solidarität unter Frauen schwächt und den Feminismus in seiner Essenz untergräbt.
Von den rechten Frauen zu den rechten Männern: Studien aus den USA, Deutschland und der Schweiz zeigen, dass sich junge Frauen zunehmend politisch links und junge Männer zunehmend rechts und teilweise antifeministisch positionieren. Warum? Wurden junge Männer zu wenig gefördert?
Eine feministische Bewegung stellt die Geschlechterhierarchien infrage, und das bedeutet, dass Männer ihre traditionelle Rolle stärker hinterfragen müssen. Viele junge Männer erleben das als Verlust von Privilegien, was oft zu Abwehrreaktionen führt. Sie wenden sich rechten Bewegungen zu, die versprechen, die alten Strukturen zu bewahren. Bei den Frauen ist es anders. Sie sehen, dass Themen wie Care-Arbeit und soziale Gerechtigkeit an Bedeutung gewinnen. Diese Erfahrungen – die sie auch im Privatleben machen – werden zunehmend in der Politik vertreten. Das schafft für Frauen eine Identifikationsmöglichkeit im linken politischen Spektrum. Sie fühlen sich dort verstanden und politisch repräsentiert. Für Männer gibt es weniger Angebote, die ihnen helfen, sich in einer veränderten Gesellschaft zurechtzufinden. Kulturell halten viele Angebote – von Actionfilmen bis hin zu populären Medien – an alten Rollenbildern fest. Auf politischer Ebene gibt es für Männer keine klare Entsprechung, die auf die Herausforderungen der modernen Männlichkeit eingeht. Das führt dazu, dass sich viele junge Männer vom Feminismus angegriffen fühlen und sich nach rechts orientieren.
Sie haben nun den Walliser Kulturpreis für Ihr Lebenswerk bekommen, und es wurde eine Biografie über Sie geschrieben. Das tönt fast, als wäre Ihr Lebenswerk jetzt vollendet.
Auf keinen Fall. Für mich ist das keine Vollendung, sondern eher eine Anerkennung dafür, dass ich mein Leben immer aktivistisch und reflektiert gelebt habe – und das auch weiterhin tue. Aktivismus und Reflexion gehören für mich als Historikerin zusammen. Es reicht nicht, nur zu handeln, man muss auch das grosse Ganze im Blick haben.
Mit welchen Worten würden Sie Ihr feministisch-aktivistisch-wissenschaftliches Werk zusammenfassen?
Solidarität gekoppelt mit Verantwortung.
Zum Buch
Denise Schmid: Elisabeth Joris – ein Leben in Geschichte(n). Verlag hier und jetzt 2024, 304 Seiten, 39 Franken.