- Selbsthilfe im ehemaligen McDonalds
Vom McDo zum «l’après M» – Solidarität in Marseilles Norden
Die Busfahrt in den Norden Marseilles, ins 14. Arrondissement, sie dauert. Wir fahren in die «Banlieu der Banlieus», wie das 14. Arrondissement auch bezeichnet wird. Entstanden sind die Wohnsilos vor allem nach dem Algerienkrieg in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts für Rückkehrer:innen aus Algerien. Heute leben hier alle möglichen Nationalitäten. 35 Prozent Arbeitslosigkeit, die jungen Kids werden auch PPP genannt – «prêt pour prison». Anfang Oktober findet hier ein Prozess über einen 14-Jährigen statt, der von Drogendealern als Auftragskiller eingesetzt wurde.
An einem Autobahnkreisel gelegen, sehen wir einen typischen McDonalds-Bau. Allerdings fehlt das typische «M» auf einer grossen Stange. «L’après M» ist das Gebäude angeschrieben. Die vielen Graffitis lassen den Gedanken aufkommen, dass der «McDo» von der Besitzer:in verlassen und dem Schicksal überlassen wurde. Doch ich lerne ein lebendiges Beispiel gelebter Selbsthilfe und Solidarität kennen.
Vorzeigeprojekt mit staatlicher Hilfe wird geschlossen
Eröffnet wird der McDonalds am Rond-Point von Sainte-Marthe 1992. Der Weltkonzern erhält Land und Steuererleichterungen in der Hoffnung, im Problemstadtteil eine Aufwertung zu bewirken. Das gelingt auch. Nicht zuletzt wegen der günstigen Preise. Rund 70 Arbeitsplätze hat der McDo von Sainte-Marthe um 2018. Unter ihnen auch Kamel Guemari. Mit 16 Jahren beginnt der heute 43-Jährige im McDo zu arbeiten. «Ich ging da vorbei um mich zu bewerben. Sie verlangten ein Bewerbungsschreiben, aber ich wusste nicht, was das ist. Doch ich fand Hilfe – und erhielt einen Job.» Kamel lernt lesen, arbeitet sich hinauf, wird schliesslich Filialleiter. Und er ist Gewerkschafter. Ihm fallen die unterschiedlichen Arbeitsbedingungen bei McDonalds auf. In Sainte-Marthe sind sie besonders mies. «Wir haben uns organisiert. Und wir haben ein Netzwerk von unten mit anderen McDo’s aufgebaut. Die Arbeitsbedingungen verglichen. Und dann dafür gekämpft, dass diese angeglichen werden.» Weltweit werden Klagen gegen McDonalds lanciert. In Sainte-Marthe führt der Arbeitskampf 2018 zum Streik. Und zur Aussperrung. Kamel wird eine hohe sechsstellige Eurosumme angeboten, wenn er sich zurückzieht. Er bleibt. 2019 wird das einstige Vorzeigeprojekt von McDonalds France geschlossen. Die Schliessung wird von der Gewerkschaft juristisch angefochten, aber vergeblich: 2019 wird die sie von einem Gericht bestätigt…
Besetzung während dem Lockdown und was daraus entsteht
Dann kommt die Coronapandemie, das «Confinement», der Lockdown: «In den Quartiers du nord war die Angst grösser, zu verhungern als angesteckt zu werden.» Kamel Guemari hat noch die Schlüssel zur McDo-Filiale – er und ehemalige Mitarbeiter:innen besetzen die Filiale und funktionieren sie zu einer Lebensmittelausgabestelle um. Guemari und seine Mitstreiter:innen weibeln für Lebensmittel. Tausende von Lebensmittelpaketen werden verteilt. Der McDo am Rond-point wird ein Zentrum für Selbsthilfe und Solidarität. Die ehemaligen Angestellten, das Quartier kämpft nicht mehr für eine Wiedereröffnung von McDonalds, sondern für etwas Neues: das Restaurant zu übernehmen. Die Idee von l’après M ist geboren. Bald ist das Gebäude entsprechend beschriftet, Street-Art-Künstler:innen sorgen für eine passende Bemalung, die zeigt, dass hier kein normales Burgerrestaurant steht.
Eine Trägerfirma «La part du peuple» wird gegründet, Geld gesammelt, um das Areal zu kaufen. Schliesslich schaltet sich die Stadt Marseille ein und kauft 2021 das noch immer besetzte Areal, dass sie vor 30 Jahren für einen McDonalds zur Verfügung gestellt hat, für 600 000 Euro. Am 10. Dezember 2022 schliesslich wird l’après M offiziell eröffnet. Der ehemalige McDo ist inzwischen zum Gemeinschaftszentrum für das 14. Arrondissement geworden. An die Konzerte kommen Hunderte, der unwirtliche Platz neben dem Autokreisel ist zu einem lebendigen Ort geworden.
Heute arbeiten wieder gegen 40 Menschen im Restaurant. «Die meisten kommen aus der nächsten Umgebung», sagt Kamel. Auch Ausbildungen werden angeboten. Ein Starkoch entwickelt eigens neue Burger und schult das Personal. Für eine Familie, die gerade kommt, sind diese «Fastronomie-Burger» mit 5,90 Euro aber zu teuer. Sie nehmen die einfache Formule mit dem Burger für 2,90.
Gegen 1000 Lebensmittelpakete die Woche
Beinahe zwei Jahre sind seit der Eröffnung vergangen. Der Betrieb im Burgerrestaurant hat sich eingespielt. Nach wie vor ist l’après M aber auch eine Lebensmittelausgabestelle. Hinter dem Gebäude sind mehrere Container platziert worden. Darin werden die Lebensmittel für die Ausgabe an «unsere Freunde von der Strasse» gesammelt, gelagert und verpackt. Jede Woche werden um die 1000 Lebensmittelpakete ausgegeben. Ein Hoffnungsfunken der Solidarität, ein Zeichen, was Selbsthilfe bewirken kann. Nicht zu unterschätzen in dieser Zeit. Nicht nur im 14. Arrondissement von Marseille.
Spenden für l’après M
L’après M sucht immer Spenden für die Hilfe an «nos amis de la rue», Bedürftige, Familien in den Quartiers du nord.
www.apresm.org/don