- Serie zur Asylpolitik – Teil 3
Visumspflicht tötet. Die Auslagerung der Asylverfahren ist eine Illusion.
«Schlepper beuten die Not von Flüchtlingen aus. Darum braucht es mehr Grenzkontrollen, Überwachung und härtere Strafen für Schlepper.» Von rechts bis links wiederholen dies Politiker:innen in ganz Europa. Sie haben nicht recht.
Schlepper sind Fluchthelfer. Und ihre Dienstleistung, der Menschenschmuggel, ist nicht die Ursache der illegalen Zuwanderung, sondern eine Reaktion auf die Verschärfung der Grenzkontrollen und die Ausdehnung des Visumszwangs. Der Migrationsforscher Hein de Haas führt dies in seinem auch sonst lesenswerten Buch «Migration. 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt» einleuchtend aus.
Auf seinen Spuren gehe ich den Fragen nach: Warum gab es erst seit den 1990er-Jahren Tote im Mittelmeer? Und warum geben Kriegsflüchtlinge heute Tausende von Dollars aus, um in einem Schlauchboot oder versteckt in einem Lastwagen ihr Leben zu riskieren – statt ein viel günstigeres Flugticket zu kaufen? Die Antwort lautet in beiden Fällen: Schuld sind die Visumspflicht und die Grenzbefestigung.
Schengen: Voraussetzung fürs Mittelmeergrab
Als 1991 Italien und Spanien im Rahmen des Schengener Abkommens eine Visumspflicht für nordafrikanische Staaten einführten, unterband das erstmals die bis dahin übliche legale zirkuläre Migration von Arbeitskräften. Neu brauchte es schwer erhältliche Visa. Immer mehr Nordafrikaner wichen auf kleine Fischerboote aus. Spanien rüstete darauf die Grenzkontrolle an der Strasse von Gibraltar mit Radar auf und baute 1993 in Ceuta, der spanischen Enklave in Marokko, einen Zaun, der mit Stacheldraht erweitert und 2005 von drei auf sechs Meter erhöht wurde. Über die Jahre wurden neue Wege übers Mittelmeer aktuell – parallel dazu wurde die ganze Mittelmeergrenze immer stärker militarisiert. Und mit jeder Verschärfung des Grenzschutzes wurde auch der Menschenschmuggel professioneller, gefährlicher und teurer. Das wahre Geschäft mit der illegalen Migration allerdings machen nicht die Fluchthelfer:innen, sondern die Waffen- und Technologieunternehmen, die die Festung Europa aufrüsten. Auch das Frontex-Budget verzehnfachte sich praktisch von 2012 bis 2020 auf jährlich 754 Millionen Euro.
Carrier Sanctions: Privatisierte Flüchtlingsabwehr
Warum aber, so könnte man sich fragen, kamen dann über die Mittelmeer-Route seit den 2000er-Jahren auch Flüchtlinge – aus Somalia, Eritrea oder aus der Demokratischen Republik Kongo, später aus Afghanistan, Syrien, Irak? Warum fliehen Schutzsuchende nicht – wie in den 1970er-Jahren die in Teil zwei dieser Artikelserie erwähnten Chile-Flüchtlinge – mit dem Flugzeug rasch, sicher und günstig nach Europa?
Schuld daran ist die Carrier Sanctions-Richtlinie 2001/51 der EU – die auch für die Schweiz gilt. Sie fordert hohe Bussen gegen Flug- und Schiffahrtsunternehmen, wenn sie Passagiere ohne gültige Reisedokumente transportieren. Zwar wird in der Richtlinie erwähnt, dass die Flüchtlingskonvention weiterhin gültig sei. Allerdings müsste faktisch nun das Personal einer Airline in kürzester Zeit entscheiden, ob ein Passagier ohne Visum allenfalls ein Flüchtling ist – und darum dennoch transportiert werden darf. Und weil es umgekehrt keinerlei Sanktionen gibt, wenn das Personal klar erkennbare Flüchtlinge abweist, gilt faktisch: Personen ohne Einreisevisum werden generell abgewiesen.
Damit wurde im Schengenraum generalisiert, was der damalige Kanzleramtschef Wolfgang Schäuble für die BRD erdachte und 1985 auch gegenüber der DDR einforderte. Die ostdeutsche Regierung hatte ab 1983 Tamilen, aber auch andere Flüchtlinge mit der Interflug in die DDR gebracht und ohne Visum in die BRD einreisen lassen – während gleichzeitig für innerdeutsche «Republiksflüchtlinge» der Schiessbefehl galt. Schäuble seinerseits machte die westdeutsche Zustimmung zu einer Erhöhung des Swings – einer zinslosen Kreditlinie an die DDR – von der Zusage der Ostdeutschen abhängig, den Zustrom der Tamilen zu stoppen, was auch so geschah.
Auslagerung der Asylverfahren?
Zurück in die Gegenwart. Dass seit 2014 über 30 000 Geflüchtete im Mittelmeer ertranken, ist kein genügender Grund für die EU, den Visazwang zu überdenken und legale Fluchtwege zu schaffen. Vielmehr wird alle paar Jahre wieder die untaugliche Idee propagiert, Asylverfahren aus der EU auszulagern. Erstmals auf Ebene des EU-Rats hievte das Thema 2003 Tony Blair auf den Schild. Der sogenannte Blair-Schily-Plan forderte ein Jahr später Auffanglager für Flüchtlinge in Nordafrika. Das Ganze wurde als humanitärer Fortschritt angepriesen. Die berechtigte Sorge von Flüchtlingsorganisationen um faire Verfahren war aber nicht der Grund, dass das Konzept nie umgesetzt wurde.
Das hat erstens politische Gründe: Dafür bräuchte es ein materiell einheitliches europäisches Asylverfahren und einen Mechanismus, der alle Länder konkret mit Quoten in die Aufnahmeverantwortung für Schutzbedürftige einbezieht. Genau das aber hat die EU auch mit dem neuen gemeinsamen Europäischen Asylsystem nicht geschafft.
Zweitens drohen enorme Kosten. Das zeigen ähnlich gelagerte Projekte: Alleine Italiens erster Transfer von 16 in Lampedusa aufgegriffenen Migranten in das neue Verfahrens-Lager in Albanien kostete pro Kopf 18 000 Euro – während gleichtags 1200 neue Bootsflüchtlinge in Lampedusa eintrafen. In den nächsten Jahren wird mit Kosten von einer Milliarde Euro gerechnet – für 3000 Plätze, die rasch belegt sein werden. Auch das unterdessen von Labour gekündigte Ruanda-Abkommen für 300 Abgeschobene hätte pro Kopf über zwei Millionen Franken gekostet.