Viel mehr als nur die Öko-Partei

Zum 40. Geburtstag der Partei haben Sarah Bütikofer und Werner Seitz den wissenschaftlichen Sammelband «Die Grünen in der Schweiz» veröffentlicht. Im Gespräch mit Tim Haag erzählen sie, wessen Partei die Grünen sind und was sie in vierzig Jahren eigentlich konkret erreicht haben.

Können Sie die Farbe Grün nach dem Herausgeben dieses Buchs noch sehen?

Sarah Bütikofer: Ich habe mir gerade einen hellgrünen Hosenanzug gekauft. 

Werner Seitz: Bei den vielen administrativen und redaktionellen Arbeiten hatte ich schon manchmal den einen und anderen Durchhänger, aber jetzt, wo wir das Buch mit einer Punktlandung veröffentlicht haben, ist die Erinnerung an die mühsamen Momente am Schwinden und die Freude über das grüne Buch gross. 

Sie sprechen von Punktlandung – wie lange dauerte denn der ganze Flug, vom ersten Strich bis zur Veröffentlichung?

S. B.: Gefühlt ewig. Nach den Wahlen 2019 haben wir angefangen, und die Pandemie hat den Arbeitsprozess auch nicht gerade beflügelt.

Es war also nicht ursprünglich geplant, das Buch auf den 25. Geburtstag der Grünen zu veröffentlichen?

S. B.: Zum 25-Jährigen gab es ja schon eines. 

Wieso denn jetzt, nach 40 Jahren Grüne, und nicht nach 50?

W. S.: Das schliesst sich ja nicht aus. Grund waren die Wahlen von 2019, bei denen die ökologischen Parteien, die Grünliberalen und vor allem die Grünen, massiv zugelegt haben. Dieses Resultat wollten wir vertieft analysieren. Zudem lagen 2019 bedeutend grössere Zahlenreihen für die Grünen vor als 2008.

Sind Sie selbst Unterstützer:innen der Grünen?

S. B.: Nein. Ich bin eine Gegnerin von Betroffenheitsforschung. Ich finde die Beschäftigung mit den Grünen aber aus politikwissenschaftlicher Warte interessant: Die Grünen sind die einzige neuere Partei, die sich in den letzten vier Jahrzehnten im politischen System der Schweiz fest etabliert hat.

Sie konnte dem Schicksal vieler Kleinparteien entgehen: Sie wurde weder von einer grossen Partei übernommen, noch ging sie eine Fusion ein, noch hat sie sich selbst aufgelöst. Im Gegenteil: Die Grünen sind heute in allen Landesteilen präsent und haben majorzfähige Mitglieder. Vorwiegend in den urbanen Gebieten der Schweiz übernimmt die Partei mittlerweile auch Verantwortung in Exekutivämtern.

W. S.: Mich hat die rotgrüne Bewegung von Anfang an interessiert und ich habe sie immer wieder analysiert. Mitglied bei den Grünen bin ich aber nicht. 

Für welches Publikum ist der Sammelband gedacht? 

W. S.: Wir wollten ein Buch herausgeben, das zwar wissenschaftlich fundiert, aber auch für ein nichtwissenschaftliches, interessiertes Publikum leicht verständlich ist. 

S. B.: Das Buch hat auch eine Archivfunktion. Es werden aktuelle Fragestellungen angegangen, es soll aber noch in zehn oder zwanzig Jahren Intere-ssierten reichhaltiges Material geben. Aus diesem Grund haben wir auch zahlreiche Forscher:innen mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Fachgebieten eingeladen, einen Beitrag zu verfassen, um die Entwicklung der Grünen aus vielfältigen Blickwinkeln zu beleuchten. 

Wie steht es denn um die Geschichte? Ist die Grüne Partei heute noch dieselbe wie 1983?

W. S.: Keine Partei ist mehr dieselbe wie vor 40 Jahren. Als die Grüne Partei gegründet wurde, gab es eine eher gemässigte Formation, die sich Ökologie, Nachhaltigkeit und Dezentralisierung auf die Fahne geschrieben hatte, und es gab alternative Grüne, zu denen sich auch 68er-Parteien gesellten. Diese verbanden grüne Ideen mit gesellschaftspolitischen Fragen wie Pazifismus, Feminismus, Selbstverwaltung oder internationaler Solidarität. Heute sind die meisten dieser Formationen in der Grünen Partei aufgegangen, die eine stattliche Partei geworden ist.

S. B.: Zu Beginn fanden sich Aktivist:innen aus verschiedenen Bewegungen zu den Grünen zusammen. Einige Mitglieder misstrauten den politischen Institutionen und wollten sich klar davon abgrenzen. Heute haben die Grünen in der ganzen Schweiz in Parlamenten Einsitz, stellen Exekutivamtsträger:innen und vertreten sogar einige Kantone im Ständerat.

Und der/die prototypische Grüne Wähler/Wählerin, haben die sich über die Jahre genauso verändert?

S. B.: Jein. Die Grünen haben einerseits einen Anteil an Wähler:innen, der die Partei schon seit langem wählt, andererseits war ein grosser Teil der heutigen grünen Wähler:innen vor 40 Jahren noch gar nicht auf der Welt. Es ist der Partei gelungen, ihre Wählerschaft der ersten Stunde mitzunehmen und gleichzeitig besonders bei gebildeten, jungen, städtischen Wähler:innen, die politisch links stehen, auf breite Unterstützung zu stossen. Die Partei wird zudem häufiger von Frauen als von Männern gewählt. 

Die Grünen sind die Partei der Jungen – sind sie auch die Partei des Klimaaktivismus? 

W. S.: Das wäre eine grobe Verkürzung. Es liegt zwar auf der Hand: Wenn eine Partei Kontakt zu dieser Bewegung hat, sind es am ehesten die Grünen. Umgekehrt sind die Grünen aber nicht nur die Partei des Klimaschutzes. Die Grünen sind – neben der Ökologie – auch besonders kompetent in gesellschaftspolitischen Fragen, bei denen sie eine progressive Position einnehmen. 

S. B.: Es gibt viele Themen der Gesellschafts- und Staatspolitik, die häufig zuerst von Grünen besetzt werden. Zum Beispiel Ausländer:innen-stimmrecht und andere Bürgerrechtsfragen, Stimmrechtsalter 16, Kampf gegen Gewalt in Paarbeziehungen, Cannabislegalisierung, Straffreiheit von Schwangerschaftsabbrüchen oder auch Themen wie Food Waste oder Kreislaufwirtschaft. Nicht selten sind es Nischenfragen und avantgardistische Positionen, welche die Grünen vertreten. Die «Ehe für alle» ist so ein Beispiel. Es war eine grüne Parlamentarierin, die diesen Vorstoss 1998 als erste im nationalen Parlament einbrachte. Damals wurde er abgeschmettert. Und jetzt, eine Generation später, ist die «Ehe für alle» mehrheitsfähig. 

Ausländer:innenstimmrecht, LGTBQI, Schwangerschaftsabbrüche, Gleichstellung – wäre das eigentlich nicht eher Terrain der SP?

S. B.: Nicht zwingend oder zumindest nicht ausschliesslich. Auf der eindimensionalen links-rechts Achse, wo es vor allem um ökonomische (Umverteilungs)Fragen geht, stand die SP historisch schon immer links. Sie setzte sich für ein linkes Wirtschaftsprogramm ein, sie befürwortete staatliche Eingriffe, Regulierungen und einen starken Sozialstaat. Über die letzten Jahrzehnte wurde die zweite Dimension zunehmend wichtiger: die kulturelle oder Wertedimension. Damit sind Fragen der politischen Identität und der kulturellen Zugehörigkeit gemeint. Auf dieser Dimension haben sich die Grünen schon immer klar progressiv positioniert, während die SP erst später nachgerutscht ist.

In den letzten Jahren hat die SP Wähler:innen an die Grünen verloren. Wieso?

W. S.: Im Zug der Transformation der Gesellschaft von einer Industrie- in eine Wissensgesellschaft ist der SP ihr traditioneller Wähler, der Industriearbeiter, zunehmend abhanden gekommen. Die SP hat sich daher den neuen sozialen Bewegungen zugewandt. Dieses Segment ist auch die Basis der Grünen. Aus diesem Grund politisieren SP und Grüne auf einer sehr ähnlichen Basis mit sehr ähnlichen Inhalten. Es gibt aber unterschiedliche Profile und Kompetenzzuweisungen. Je nach Themenkonjunktur verliert die SP bei den Wahlen an die Grünen – nämlich bei ökologischen Themen – oder die Grünen an die SP, bei sozial- oder aussenpolitischen Themen. 

S. B.: Wichtig ist aber auch festzuhalten, dass in der Schweiz die SP im Gegensatz zu anderen europäischen sozialdemokratischen Parteien nicht im gleichen Ausmass Wähler:innenanteile verloren hat. Das linke Lager ist über die Zeit nicht geschrumpft.

Was haben die Grünen in den letzten 40 Jahren eigentlich erreicht?

W. S.: Um es kurz zu sagen: Die Grünen  haben sich die Kompetenz in Fragen der Ökologie und der progressiven gesellschaftlichen Werte erarbeitet. Sie garantieren, dass diese nicht vernachlässigt werden und sorgen dafür, dass sie im Bündnis mit anderen Parteien grössere Akzeptanz erhalten. 

S. B.: Im politischen System der Schweiz kann aber natürlich keine Partei alleine einen bestimmten Kurs festlegen. Es braucht immer Verbündete. 

Und was müssen sie bis zum nächsten Jubiläum besser machen?

S. B.: Naja, zum Beispiel sind sie noch immer nicht im Bundesrat. Das liegt aber nicht nur an ihnen, sondern auch an den Mehrheitsverhältnissen in der Bundesversammlung. 

W. S.: Ich möchte mir nicht anmassen, zu sagen, wie es die Grünen in Zukunft besser machen sollen. Die Geschichte der Grünen zeigt jedoch deutlich, dass es ihnen gelungen ist, in der institutionellen Politik ein ernstzunehmender Faktor zu werden und gleichzeitig mit den Bewegungen in Kontakt zu bleiben. Diesen nicht immer einfachen Spagat sollten sie beibehalten.

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