Verlorene Kindheit

Der Verhaltens-Coach James Clear begann seine Karriere auf Youtube. Dort findet sich ein Interview, in dem er gesteht, dass er seinen Kindern nicht erlaube, Youtube zu schauen. Er bekannte dies mit einer gewissen selbstironischen Ratlosigkeit, und nicht etwa mit der herrischen Selbstverständlichkeit eines kettenrauchenden Patriarchen, der seinen Kindern den Tabak verbietet. Drei Dinge daran haben mich hellhörig gemacht: Die Allgegenwart von Ratgebern zur besseren Lebensführung, ein fortschreitendes Einvernehmen über die Giftigkeit der elektronischen Medien (selbst unter jenen, die ihren Lebensunterhalt damit verdienen) und der entschuldigende Tonfall, wenn Kinder nicht das Gleiche dürfen wie Erwachsene. 

 

‹20 Minuten› berichtete (am 25.11.19) von einer Verdoppelung der unter 18-Jährigen in der Psychiatrie innert zehn Jahren; die befragten Expertinnen sehen die Ursachen einerseits beim enorm gestiegenen Leistungsdruck in der Schule und im Elternhaus, während gleichzeitig die Eltern selber beruflich zu eingespannt sind, um Geborgenheit zu bieten. Zusätzlich setzten die Social Media die Jugendlichen unter Druck, da sie sich hier ständig im besten Licht präsentieren und verfügbar sein müssten. Da mag es erstaunen, dass in der Migros-Zeitung (vom 13.1.20) ausgerechnet ein Kantilehrer und ein Bildungsexperte die schulische Nachhilfe mittels Erklärvideos aus dem Internet empfehlen, um Lernlücken zu schliessen – begleitet von Ratschlägen gegen die Gefahren von zweifelhaften Inhalten, passiver Lernhaltung und übermässigen Compigebrauchs. (Eine Analyse der Problem-Ursache, wie etwa ständig steigende Anforderungen, bleibt hingegen aus). 

 

So etwas ist heute normal. Das allgegenwärtige Konsumgebot wird gerne von Warnungen begleitet: Auf der Zigarettenpackung prangt die Krebslunge, die Weinflasche empfiehlt Mässigung, Süssigkeiten weisen Zucker- und Fettgehalt aus. Die Standhaftigkeit, den Entscheidungswillen und die Vernunft für die richtige Wahl und das rechte Mass müssen die Konsumierenden, selbst wenn sie noch Kinder sind, selber aufbringen.

 

Stefanie Gräfe beleuchtet im ‹Widerspruch› (Heft 38/2019) die «Therapeutisierung» und «Entvergesellschaftung» sozialer Problemlagen mit dem «Zauberwort» der Resilienz (in etwa: Widerstandskraft), die wir selbst in uns stärken sollen, um uns auf «die flexible Anpassung an sich rasch wandelnde und deshalb potentiell auch stets krisenförmige Umweltbedingungen» zu trimmen. Peter Samol sieht (ebda.) aus diesen Verhältnissen den «Narzissmus als Norm» aufsteigen. Bereits kleine Kinder würden im Hinblick auf spätere berufliche Fitness und Konkurrenzfähigkeit mit Fördermassnahmen traktiert, was zu oft «tiefer Einsamkeit schon in der Kindheit» führe. Diesem «Verkauf der Persönlichkeit», der ständigen «Übung der Selbstverleugnung» und der resultierenden inneren Leere kann man nur mit Grossartigkeitsphantasien begegnen oder – im Falle des Scheiterns – mit verzweifelten Ersatzhandlungen bis hin zum Amoklauf.

 

Offenbar frisst der Neoliberalismus seine Kinder. Wir können sie nicht mehr vor den Gefahren der Erwachsenenwelt schützen. Selbst wenn wir diese kennen, bleiben wir ihnen doch ohnmächtig ausgeliefert. Schlimmer noch: Was als Abhilfe oder Ausweg erscheint, nämlich die Verbesserung der Leistungs- und Widerstandsfähigkeit durch die Beherzigung unzähliger Ratschläge, ist ein wesentlicher Teil des Problems.

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