- Kultur
Verlockung
Virginia Woolfs «Orlando» wird im gleichnamigen Solo von Hale Bo Enzo Richter zu einem erwartungsvollen Ruf in einer stumm bleibenden Echokammer. In kuscheliger Umgebung, wo die äusserliche Verletzungsgefahr auf ein Minimum reduziert worden ist, wird nicht etwa der Akt der Befreiung im Sinn einer revolutionär kämpferischen Tat gefeiert, sondern vielmehr die Verlockung praktiziert, sich mit in den Kokon zu begeben und eine gemeinschaftliche Wandlung zu vollziehen. Nicht das Recht auf eine individuelle Geschlechterfluidität wird reklamiert, sondern die Glücksverheissung einer allgemeinen Akzeptanz als Gewinn gepriesen. Die Idee einer vorübergehenden Brother-/Sister-/Sternlihood unter den Anwesenden meint auch direkte Ansprache und erfragt auch die freiwilliger Teilhabe. Soft-Power würde als Begriff das Konzept von Bale Ho Enzo Richter und Yesim Nela Keim Schaub am ehesten trefflich umschreiben. Poetische Woolf-Zitierungen wechseln mit sich selbst Mut einflössendem Sprechgesang ab. Eine bildhafte Umkehr von Verletzlichkeit in Stärke korrespondiert mit der Grösse, sich aktiv einer Lächerlichkeit preiszugeben. Die Tonalität ist weder fordernd noch larmoyant, sondern rhetorisch fragend, Möglichkeiten auslotend, Chancen verheissend. Ein Was wäre wenn-Solo, das auch spielerisch die Absurdität der angeblich sakrosankten Dualität vor Augen führt, indem ein Alternativentwurf für eine Massgeblichkeit behauptet wird, der nachgerade obszön zu sein scheint. Virginia Woolfs Roman ist nur das Fundament und bildet den Rahmen für eine sinnliche Erfahrbarmachung eines rundum beschützten Gefühls, das im Augenblick keine Gefahr zu fürchten braucht. Der Abend macht es einfach, beizupflichten, dass jederzeitige umfassende gegenseitige Rücksichtnahme das meistversprechende Konzept für ein verbreitetes Wohlbefinden in einer je individuellen Ausprägung ist.
«Orlando. Eine Kopie ohne Original», bis 14.3., Chorgasse, Theater Neumarkt, Zürich.