Verfraut unter Blinden

«Die Männer sind vermannt», sagt Frau G. «und die Frauen verfraut.» Ich überlege, was das bedeuten könnte. Frau G. ist nämlich seit Geburt blind. Was hat sie für eine Vorstellung von Frauen und Männern? Zumal sie fast alle ihrer neunzig Jahre ledig in Heimen verbracht hat. Sie umfasst meine Hand, als ich ihr die Näharbeit reiche. «Oh die Hände! Ich hätte gerne hundert Hände! Ihre Hände sind auch verfraut, schön und verfraut.» Und wie denkt man sich «schön», wenn man nie etwas Schönes gesehen hat? «Darf ich mal Ihre Frisur tasten?» Ich neige meinen Kopf zu ihr hin. «Ah, so, ja. Die passt zu Ihren Händen und zu Ihrer Stimme.» 

 

Seit dreissig Jahren wohnt Frau G. nun in dieser Institution für Blinde und Sehbeeinträchtigte, wo ich einen befristeten Freiwilligeneinsatz bei der Freizeitgestaltung leiste. Es beeindruckt mich, wie rasch und widerstandslos die BewohnerInnen zu mir Zutrauen fassen und von mir Hilfe annehmen. Ich fühle mich von diesem spontanen Vertrauensvorschuss beschenkt. Ob ich wohl auch so empfänglich, freundlich, ja geradezu schicksalsergeben wäre, wenn ich mit einer solchen Einschränkung in einem Heim leben müsste? 

 

Frau G. möchte am Fernseher einen Ländler-Kanal einstellen, aber sie kann es nicht. Ich meine, am Radio wäre sie besser bedient, weil es da eher Sender für spezielle Musikinteressen gebe. Ihr Radio sei leider kaputt, sagt Frau G. etwas schuldbewusst, weil sie draufgehauen habe, als sie es einmal nicht zum Laufen brachte. Da scheint doch in den Untertönen etwas Frust über die eigene Beschränkung auf – wie auch dann, wenn ich versehentlich mit dem Vokabular der Sehenden um mich werfe und etwa frage: «Wollen Sie heute am rosa Bommel weiternähen?» Dann kriege ich zu hören: «Ich weiss doch nicht, was rosa ist. Ich kenne ja die Farben nicht!» (Am liebsten schreddert Frau G. sowieso Akten. Das Geräusch gefällt ihr, und wie der Reisswolf ihr das Papier aus den Händen frisst.) Sie traut mir nicht recht, als ich behaupte, man könne mit den heutigen Fernsehgeräten auch Radio hören. Ich schildere ihr, dass auf diesen Sendern einfach kein Bild kommt, sondern nur Ton. Wobei ich ehrlich gesagt keine Ahnung habe, ob Frau G. sich von einem Bild überhaupt ein Bild machen kann! Als ich ihr nämlich nach der Musikstunde das i-Pad erklären wollte, musste ich kapitulieren. «Das hat ja gar keine Tasten, wo stellt man das ein und aus?», war ihre perplexe Reaktion, während sie über die spiegelglatte Oberfläche strich. «Also, die Tasten leuchten auf, sie erscheinen von selbst, ähm.» Vielleicht hätte ich es mit dem An- und Abschwellen von Klängen vergleichen sollen.

 

Gemeinsam spazieren wir zum Empfang. Dort fragen wir, ob man fürs Eruieren der Radiosender  einen Techniker aufbieten könne. Da hat jemand einen schlechten Tag und tadelt Frau G.: «Jaa, tüend Sie jetzt ämal zuelose!» Dabei hat diese ganz normal gefragt, einfach in ihrer etwas eindringlichen Art, die Dinge zwei-, dreimal zu wiederholen. Sie kann sich ja nicht auf die Körpersprache verlassen, um Nachdruck zu vermitteln. Sie hat keine Gestik, kaum Mimik. Woher auch? Sie erhält einen Notizzettel für die Pflege, die ihn für den Techniker an ihrem Gerät anbringen soll, und wir verabschieden uns vor dem Lift. «Ach Ihre Hände, am liebsten würde ich sie abschrauben und mitnehmen!» – «Oh je, die brauche ich aber noch! Adieu Frau G., kommen Sie gut heim!» Heim …

 

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