Verdrängtes Paradies

Einerseits, muss man sagen, ist da noch immer etwas von der Pandemie übrig. Sogar etwas viel davon. Andererseits ist Krieg, überall auf der Welt. In den Flüchtlingslagern hat sich nichts verändert, mindestens nicht zum Guten, denn es waren seit dem Zweiten Weltkrieg noch nie so viele Menschen auf der Flucht wie jetzt. Und dazwischen und darum herum fühlt sich der Juni an wie ein August, er ist zu warm, zu schön, zu flirrend und man treibt wie auf einer Welle mittendrin im Klimawandel, treibt immer weiter hinaus, hinaus ins grosse Meer, von dem man irgendwann nicht mehr zurückschwimmen kann an den Strand, vielleicht schon jetzt. 

 

Ich sass mit meiner Tochter auf dem Hottingerplatz. Neben uns plätscherte der Brunnen, Kinder spielten, wir assen ein Glacé, es war, als hätte der Weltfrieden sich neben uns gesetzt, diese Ruhe, diese Sicherheit. Wir waren einfach da und wollten nirgendwo sonst sein, so oder ähnlich ist es vermutlich im Paradies, dachte ich, wenn es das überhaupt gibt, freundlich warm wie laues Wasser, ein Eis in der Hand, eine schöne Balance zwischen Müdigkeit und Euphorie, kein Gedanke an vorher oder an das, was noch kommt.

 

Aber natürlich kam etwas, nämlich ein Nachbar, in dessen Haus nun eine ukrainische Familie wohnt, nur übergangsweise, aber das ist vielleicht auch einfach eine Hoffnung, es sind Vater, Mutter und zwei minderjährige Kinder, der 18-jährige Sohn blieb mit der Grossmutter zurück und kann nun nicht mehr ausreisen. So jäh endet also das Paradies, stellte ich fest, wenn es das denn überhaupt gibt. 

 

Genau diese Ukrainerin, diese Mutter von drei Kindern, wovon eines nicht bei ihr war und wer weiss wann das wieder der Fall sein wird, genau sie sass nun ein paar Bänke weiter, ihre Tochter spielte im Sommerröckchen mit den anderen am Brunnen und das, die Frau, das Kind, sah so dermassen normal aus. 

 

Das ist nicht normal. Und das ist es vermutlich, was mich die letzten Wochen drängender umtreibt als je zuvor. Wie gehen denn all diese Realitäten nebeneinander? Wie kann es sein, dass das Klima vor meinen Augen die Zukunft meiner Kinder ins völlig Ungewisse stürzt, ein Virus wieder aufflammt, das meine betagten Eltern, kranke Menschen oder auch alle anderen jederzeit wieder tödlich treffen könnte, dass ein Krieg so nahe bei mir ist, Menschen in diesem Moment vermutlich auf ihrer Flucht sterben, andere hungern und verhungern, wie kann es also sein, dass Leid und Schrecken stattfinden und ich in genau demselben Moment ein Gefühl von Glück und Schönheit habe? Wie gehen diese Realitäten nebeneinander?

 

Darüber sprach ich mit dem Nachbar auf dem Hottingerplatz, beim Brunnen, das Eis längst gegessen. Wir verdrängen halt, war der lapidare Konsens von uns beiden. Wollen nicht wahrhaben, können es nicht, weil wir sonst augenblicklich aufhören müssten mit unseren Leben. Hätten wir jederzeit das volle Bewusstsein allen Elends, das sich abspielt, könnten wir das schlicht nicht ertragen. 

 

Die Verdrängung ist das Eine. Aber das ist nicht alles und dann fiel mir wieder ein, dass Politik das Andere ist. Das, was die Gleichzeitigkeit dieser Realitäten, der wüsten und meiner eigenen schönen, erträglich macht. Man kann die Welt mit Politik wohl nicht retten, aber man tut doch etwas und hofft, sie Stück für Stück besser machen zu können. Oder im besten Fall nicht schlechter. Weil es ist die Politik, mit der wir Tag für Tag versuchen wollen, dass dereinst alle an einem Brunnen sitzen, der plätschert, an einem sonnigen Nachmittag, in einem verdrängten Paradies, wenn es das denn überhaupt gibt, einfach so.

 

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