Urban Chüngelistalling

Die Wohnbaugenossenschaft Quartier West hat ein Problem. Die letzte GV endete mit Polizeiaufgebot und Wasserwerfern. Die Künstlerin Anet Corti soll als Puffer für heikle Themen die Moderation für den nächsten Anlauf übernehmen. Schliesslich war ihr allererstes Soloprogramm ein Motivationscoaching. 

 

Ehrlich, aufrichtig, transparent. Das sind ihre heiligen drei Lebensprinzipien, wonach sie ihr sämtliches Denken und Handeln ausrichtet. Sie kann überhaupt nicht nachvollziehen, wie jemand wie «Fred vom Internet» die Erde als Scheibe und die Mondlandung als Filmtrick verunglimpfen kann und sich mit geschicktem Merchandising auch noch daran bereichert. Mitten in ihrer Elan aufnehmenden Bergpredigtlaune rollt sich die Yuccapalme Bitta selbstständig auf die Bühne und stiehlt ihr in bestem Blechmaniersprech die Show: «Du hast gestern auf Par­ship auch deine Körpergrösse auf 1,70 Meter korrigiert.» Touché! Um die Relativierung des Begriffs Lüge von Anbeginn weg gleich ganz klarzustellen, fährt Bitta (Konstruktion: Valentin Altorfer) weiter fort mit: «Du kannst doch deine 823 ZuschauerInnen nicht so an der Nase herumführen.» Auf den Einspruch, im Casinotheater fänden niemals so viele Leute Platz, antwortet die intelligente digitale Assistentin: «Aber du fühlst dich dann besser.»

 

Digitalisierter Waschplan

Noch keine fünf Minuten steht Anet Corti in ihrem vierten Solo «Echt? Über Halbwissen und harte Fakten» auf der Bühne und schon ist die schiere Grenzenlosigkeit der Thematik abgesteckt. Also zurück zur Generalversammlung. Ein Youtube-Gruss aus Elfie Gs Channel «c’est l’heure du bonheur» soll die Stimmung in Harmoniesauce tunken, denn was das letztjährige Protokoll so hergibt, droht die Stimmung gleich wieder aufzupeitschen. Der Antrag auf Umstellung auf LED führte via die Angst vor Netzhautablösung direkt zur Masernimpfung und die Eskalation. Das soll diesmal verhindert werden, liess der Präsident Carsten Wildbach ausrichten. Denn Quartier West ist eine Vorzeigesiedlung. Die Wippe wurde abgebaut, weil die Kinder damit und mit Frau Leupis Dackel Katapult gespielt hatten, es gibt Angebote für Urban Chüngeli­stalling und sogar der Waschplan wurde digitalisiert. Also, das was Carsten Wildbach darunter versteht: Eine ausgedruckte Excel-Tabelle, eine Dropbox für Änderungswünsche bei parallel nötiger E-Mail an ihn zur Sicherheit und eine Whatsapp-Gruppe für alle 300 GenossenschafterInnen, damit der Austausch garantiert einfach und unkompliziert ist. Die Zukunft wird rosig, das immerhin beweist ja das Engagement des Präsidenten. Auch rosig wird Traktandum Nummer eins: Die Abstimmung über den geplanten Bau einer 5G-Antenne.

 

Französisch mit Fortnite

Peng, schaltet sich Mara Müllhaupt per Videoschaltung ein. Sie hat sich geschworen, nie wieder an solch einer Versammlung persönlich teilzunehmen, denn was ihr letztmals alles vorgeworfen wurde, ging auf keine Ananaskunsthaut. Mara ist grundsätzlich gegen Internet (weil: Netflix ist ja Film) und für den persönlichen Austausch. Ihr ist es schon zu viel, wenn die «Mainstreamlehrer die digitale Demenz» ihrer Kinder vorantreiben. Also muss Betti Böni her, die den Lehrplan 21.1 erklären und allfällige Zukunftsängste entkräften soll. Sie versichert: Beim letztmaligen zweiminütigen Shutdown waren die Careteams für die Kinder in wenigen Minuten vor Ort, um weiterreichende Offlineschäden zu verhindern. Der Schulstoff ist vollends jugendgerecht und zukunftsorientiert: Französisch mit Fortnite («je te massacrai»), hacken statt höggle, konzentriert fokussierte Mathematikkompetenz mit den Zahlen 1 und 0. Als eine technische Frage aufkommt, nutzt Betti Böni den Klassenchat und fragt die SchülerInnen, die ja schlafen sollten, «aber vielleicht haben wir ja Glück». Diesbezüglich ja, aber die Autokorrektur ihres Smartphone lässt ihre Fragen wie sexuelle Belästigung wirken.

 

Kleine Geschichte der Lüge

Also zurück zur Künstlerpufferin Anet Corti, die sich allerdings nach intimsten Enthüllungen von Waage Molli und Toaster Franz kaum mehr auf die Bühne getraut und Flurina Fasutt vorschickt. Die KI-Entwicklerin bringt den Human Ego Booster «ID-IOT» mit, der das Abstimmungsverhalten ohne jegliches persönliche Zutun der Stimmberechtigten errechnet. Völlig anonym und hundert pro verlässlich, versteht sich. Die Resultate dieser Gedankeninterpretation lassen jede Zustimmungsquote in einer sozialistischen Diktatur als mickrig erscheinen… Zwischendrin erweitern Trickfilme von Anet Corti mit «Kleine Geschichte der Lüge» aus den Feldern von Politik, Wirtschaft und Kultur die Grenzdurchlässigkeit von Fakten und Fiktion auch auf das Publikum. Nur noch übertroffen von ihrer konzisen Herleitung für eine Beweisführung, wer hierzulande die dunkle Macht wirklich innehat. «Echt?», ernsthaft lustig.

 

Anet Corti: «Echt? Über Halbwissen und harte Fakten», 20.11., Casinotheater, Winterthur. Nächstmals:
6. – 10.4.22., Theater Hechtplatz, Zürich. 

 

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