Unaufhaltbar

Man sollte das nicht vergleichen, nicht Tote gegeneinander ausspielen. Und ich mache es natürlich trotzdem, mindestens jeweils gedanklich, so für mich, aber jetzt mache ich es sogar hier. 

Bei den Unwettern in Österreich, Polen, Tschechien und der Slowakei sind bisher mindestens 18 Menschen gestorben und das führte uns direkt in die Zeit der Superlative, von einem Jahrhunderthochwasser ist da beispielsweise die Rede. Ich lese es mit grosser Aufmerksamkeit, denn die drittgrösste Stadt Tschechiens, Ostrava, ist stark betroffen, es ist die Stadt, aus der die Familie meines Mannes stammt. Der dortige Bürgermeister sagt, es werde Jahre dauern, um die Schäden einigermassen zu beseitigen. Aus Niederösterreich wird die Ministerpräsidentin zitiert, es gebe «sehr viel menschliches Leid, sehr viel finanzielles Leid». Oder, hier aus Brandenburg: «Wir hoffen das Beste, aber bereiten uns auf das Schlimmste vor.» Die Prognosen sehen übel aus, sagt der Meteorologe, in wenigen Tagen könnte so viel Regen fallen wie sonst in ein paar Monaten. Es werden Alarmstufen ausgerufen. Die Fluten sind unaufhaltbar. 

Unaufhaltbar, und das ist das Problem in meinem Kopf mit diesen Zahlen und Toten, die ich vergleiche, sind auch die Menschen, die zu uns kommen möchten. Auch sie sterben, zuhauf, nicht in Fluten oder Jahrhunderthochwassern, sie sterben im Meer, aber ertrinken, das tun sie genauso. 

Allein im September dieses Jahres – und er ist noch nicht vorbei – sind das bisher die acht Flüchtlinge, die beim Versuch, den Ärmelkanal von Frankreich nach Grossbritannien zu überqueren, ums Leben gekommen sind. Ihr Boot ist nahe an der Küste bei Ambleteuse gekentert. Dazu kommen die sechs Leichen, die die italienische Küstenwache vor der Küste Siziliens geborgen hat, vermutlich sind das einige jener 21 Vermissten, deren Boot ebenfalls kenterte. Nach dem Schiffbruch eines weiteren Flüchtlingsboots vor der italienischen Insel Lampedusa werden noch immer über 20 Flüchtlinge vermisst. Darunter sollen sich drei Kinder befinden. Weiter hat es, wieder im Ärmelkanal, mindestens zwölf Tote gegeben, bei einem Unglück ganz zu Beginn des Monats. Die meisten der Opfer waren Frauen, es seien aber auch Minderjährige ums Leben gekommen. So steht es, akribisch recherchiert und aufsummiert, in der NZZ, es ist eine sehr gute, eindrückliche, alles in allem fürchterliche Dokumentation. 

Weltweit waren gemäss UNHCR, dem Flüchtlingshilfswerk der UNO, Stand Ende des letzten Jahres, 117,3 Millionen Menschen auf der Flucht. Fast die Hälfte aller weltweit Geflüchteten sind Kinder. Seit 2014 sind mehr als 63 000 Todes- und Vermisstenfälle erfasst, wobei die Zahl vermutlich höher ist, denn nicht alle Fälle sind bekannt, viele flüchten und ertrinken unbemerkt. 63 000 Menschen in 10 Jahren, das sind 17 Menschen pro Tag, ein Mensch alle eineinhalb Stunden. Ein Mensch alle eineinhalb Stunden, der irgendwo im Meer gerade am Ende seiner Kräfte ist und ertrinkt. Man sollte sich einmal den Wecker stellen, einen Tag lang, alle 90 Minuten. 

Warum sind wir so, dass uns die unmittelbaren Katastrophen in der Nähe so viel mehr betreffen als jene, die etwas weiter von uns entfernt stattfinden – und in der schieren Zahl, also schon rein mathematisch, viel dramatischer sind? Ich weiss, das liegt in der Natur des Menschen. Ich weiss, dass die Nähe, räumlich und kulturell, die Dynamik in Form der Überraschung, die Plötzlichkeit dieses Unwetters, die Identifikation mit der Situation (denn ein Ertrinken im reissenden Dorfbach ist uns vertrauter als ein Ertrinken im Mittelmeer auf der Flucht, nicht wahr) die Gründe dafür sind, dass wir nicht alle 90 Minuten auch ohne Wecker zusammenzucken. 

Aber ist es wirklich nötig, der Tragödie der Migration gegenüber derart abzustumpfen? Ist es wirklich unmöglich, sich dagegen zu wehren, zu wollen, dass auch die Erschütterung und Verzweiflung über den ständigen Strom der Abertausenden von Toten genauso unaufhaltbar bleibt, wie die Menschen, die es trotz allem übers Meer treibt?

Ich stelle mir den Wecker.