Um noch eine Ecke weiter

Nasdaq, Nikkei, DAX gehen Nullkomma rauf oder runter, was regelmässig verkündet wird. Obs jemand versteht, ist zweitrangig. Dem gegenüber ist die Geschichtsschreibung als Machtmittel für die Deutungshoheit immer wieder unter Druck. Die Realität ist eben zu komplex für drei Sätze allein. Irgendwo an dieser Schnittstelle zwischen Kryptik und Neubetrachtung agiert Charlotte Prodger.

 

Die Brüche, die eine in Glasgow lebende Künstlerin mit Geburtsjahr 1974 Zeit ihres Lebens im Vereinigten Königreich automatisch miterlebt hat, separiert bereits den Blick auf ein Leben von dem einer rein schweizerischen Perspektive. Jedes Lebensalter hatte seine Zäsur: Der Niedergang der Schwerindustrie und der Bedeutungsverlust der Gewerkschaften in Kindertagen. Das Versprechen, mittels des Credos, «wenn jeder sich selbst hilft, ist allen geholfen», würde alles wieder gut in Jugendjahren. Die Behauptung, der potenzielle Weltuntergang könne mit einem Angriffskrieg abgewendet werden, kurz nach der Jahrtausendwende. Der Eindruck, als Individuum allem machtlos gegenüberzustehen, ist für jemanden in UK unvergleichbar stärker ausgeprägt, als er es hierzulande sein muss. Also wieso nicht gleich eine ganz eigene Erzählung etablieren?

 

Wenn eh nichts stimmt

Die Videoarbeiten von Charlotte Prodger, die Kurator Lynn Kost nun unter dem Titel «Blanks and Performs» im Kunst Museum Winterthur versammelt, sind sperrig, störrisch, spröde, auf den ersten Blick undurchdringlich. Die erste Hürde bildet in allen Videoarbeiten die inhaltliche Disparität zwischen Bild- und Tonspur. Über vier Bildschirme flimmern in «Northern Dancer» Pferdenamen. Nachkommen eines Ausnahmerennpferds, durchzogen von nicht so wahrscheinlich dazugehörenden Begriffen wie «Retail Therapy». Über die Kopfhörer verhandelt die Künstlerin Eingriffe respektive Übergriffe der eifersüchtigen Geliebten von Gertrude Stein auf deren sowieso schon grammatikalisch herausfordernden Texte. Der Ausnahmehengst und die grossbürgerliche Mäzenin waren je für sich über das Gros hinausragende Figuren. Und streitbare Gestalten. Im entferntesten darin gleich, schöpfend, erhaltend und bewahrend wirkend zu sein (Siegerspermien, Texte/Kunstsammlung). Je in einer Eigenart. Selbst dies half ihnen nicht, vor Aneignung und Umdeutung bewahrt zu werden. Die Abhandlung darüber wirkt knochentrocken und erfährt mit der museumsseitig vermittelten persönlichen Dringlichkeit der eigenen Queerness der Künstlerin einen nochmalig weiterführenden Twist. Sinngemäss: Wenn alle können, wie und was sie wollen, mach ich das auch.

 

Entfremdung von Spannung

In «Compression Fern Face» stellt sie geometrische Figuren in einer magnetischen Anziehung-Abstossung in einer abstrakten Version und der Ästhetik der ersten Computeranimation einer Tonspur gegenüber, wo­rin sorgsam tabellarisch und monoton exakt (title, colour, year, duration, description) die katalogisierten und ausleihbaren Videoaufnahmen von Performances von Dennis Oppenheim heruntergelesen werden. Die Ab­straktion ist in beiden Fällen total. Der Film behauptet Physik, die er nur simuliert. Der Text vermittelt die Sinnlichkeit von Inhalt mit dem Reiz eines vorgelesenen Telefonbuchs. Jede Spannung dieser davorstehenden Taten wird von vornherein entladen. Die Handlung vom Gefühl entfremdet, der individuelle Einfluss auf Veränderung auf Vorrat negiert. Eine solche Logik ist selbstredend auf alle erdenklichen Bereiche anwendbar. Je abstrakter eine Möglichkeit zur assoziativen Feststellung einer Zusammengehörigkeit von zwei Beispielen, desto eindringlicher überträgt sich das Nonsens-Empfinden hinsichtlich jeder Art von Tat. Zurück bleiben zwei Möglichkeiten: Paralysiertes Erstarren oder freihändig-eigenmächtige Neudefinition von Regelwerken. Dabei ist analog zu den Börsenkursen die allgemeinverständliche Verortung höchstens sekundär. Es genügt, wenn die Hintergründe und das jeweils spezifische Vorwissen exakt recherchiert sind, also stimmen und für Eingeweihte allein erkenntlich werden. Ausgeschlossen sein, das kennt sie: Als politisches Stimmvieh, als privat nicht heteronormativ lebendes Ich. Witz ist, wenn überhaupt, höchstens im als inselspezifisch nachgesagten Schwarzen Humor erkennbar. Sinngemäss appelliert Charlotte Prodger mit ihrer Kunst, das vermeintlich Unverrückbare innerhalb der real als gültig angesehenen Gesetzmässigkeiten genausowenig passiv über sich ergehen zu lassen, wie ihre Werke als Teil einer Unterhaltungsindustrie zu verstehen. Insofern ist es möglicherweise ein Code für Widerständigkeit.

 

Charlotte Prodger: «Blanks and Preforms», bis 14.11., Kunst Museum, Winterthur. Screening weiterer Filme: Mi, 27.10., 19h, Kino Cameo, Winterthur.

 

 

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