Eine Lektion in Badranscher Wohnpolitik, gehalten im Nordbrüggli. (Bild: Elio Donauer)

«Über den Immobilienmarkt wurde eine völlig widersinnige Logik gestülpt»

SP-Nationalrätin und Wohnpolitikerin Jacqueline Badran im Gespräch mit Nina Graf über die bevorstehenden Abstimmungen und die Wohnpolitik in Zürich.

Am 24. November stimmt Zürich viermal über Wohnfragen ab. Die zwei nationalen Vorlagen werden vom Parlament und dem Hauseigentümerverband unterstützt. Der Mieterverband hat das Referendum ergriffen, er warnt vor einer Verschärfung der Mietlage – und trotzdem zeigen erste Hochrechnungen eine Zustimmung.

Wer könnte besser Auskunft geben, als die bekannteste Kämpferin in Sachen Wohnungsmisere, Mieterverbands-Vorständin und SP-Nationalrätin Jacqueline Badran? 

Wir haben uns mit ihr in Wipkingen, in ihrem Viertel, verabredet. 20 Minuten später geht die Türe des Nordbrügglis auf. Auftritt Badran: wallender weisser Mantel, markante Stimme. «Ah, ihr sind das! Use oder is Fumoir?», und ab da ist klar, dass dies kein gewöhnliches Interview wird. Die nächsten zwei Stunden im Fumoir des Lokals (E-Zigarette!) werden zu einem ‹Proseminar› in Badranscher Wohnpolitik.

Nina Graf: Jacqueline Badran, wir wollen mit Ihnen über die bevorstehende Abstimmung sprechen, gerade vor dem Hintergrund der anhaltenden Wohnungskrise in Zürich.

Jacqueline Badran: Falsch. Nicht «vor dem Hintergrund der anhaltenden Wohnungskrise» – wir haben hier keinen Akutpatienten, sondern einen chronisch Kranken. Ich bin allergisch auf Begriffe wie «Wohnungsknappheit» oder  «Wohnungsnot». Sie suggerieren, dass wir noch einen Akutpatienten haben und wenn wir einfach noch mehr bauen, dann wird alles wieder gut. Nein, der Immobilienmarkt ist chronisch krank!

Also, Sie meinen – 

Über den Immobilienmarkt wurde eine Logik gestülpt, die völlig widersinnig ist. Zwar begrenzt das Schweizer Mietrecht mit dem Renditedeckel die Bodenrente – also der leistungsfreie Ertrag auf dem Boden –, doch die fehlende Renditenkontrolle ermöglicht faktisch Marktmieten. Bei Mieter:innenwechseln werden die Angebotsmieten illegal erhöht, was 10,5 Milliarden Franken Mehrkosten für die Mietenden pro Jahr verursacht. Das sind 370 Franken pro Wohnung und Monat! Das wirkt wie ein volkswirtschaftlicher Staubsauger und ist der Kaufkraft-Killer Nummer Eins. Das macht die Mietenden zur Milchkuh der Nation. Und das alles leistungsfrei! 

Der Hauseigentümerverband würde Ihnen da widersprechen und sagen, die Eigentümer:innen tragen das Risik – 

Quatsch! Es gibt kein Risiko im Immobilienmarkt. Die Immobilienbranche ist die mit Abstand subventionierteste Branche, die wir haben. Jede steuerfinanzierte Infrastruktur in Schulen, öffentlichen Verkehr, Strassen, Parks und so weiter erhöht den Ertragswert der Immobilien. Die Bauern sind Pipifax dagegen – und die sagen wenigstens danke. Aber von der Immobilienbranche heisst es stattdessen, sie sei schrecklich reguliert, gleichzeitig macht sie aber die hohle Hand und sagt noch: «Wir sind die Investoren, wir bauen euch die Wohnungen, seid gefälligst dankbar.» Das ist verkehrte Welt.

Die Wohnpolitik, die Ihnen hingegen vorschwebt, ist die Verstaatlichung des Bodens. 

Natürlich, keine Frage. Die Bodenrente gehört denen, die den Boden nutzen und davon abhängig sind, also der Bevölkerung. Das kann man so zwar nicht fordern, aber man kann es sich scheibchenweise holen. In Zürich haben wir das Ziel, mit mindestens 33 Prozent gemeinnützigem Wohnanteil. In Winterthur wollen wir auf 25 Prozent hoch. Die nächste Generation schreibt dann 50 Prozent ins Gesetz und die übernächste 75, bis wir die Eigentumsverhältnisse umgekehrt haben. 

 Und was ist mit den Mieter:innen von heute? 

Die Eigentumsverhältnisse müssen längerfristig zugunsten der wohnenden Bevölkerung verändert werden und derweil müssen wir das Mietrecht stärker durchsetzen. Denn eine Kostenmiete mit Renditendeckel ist grundsätzlich eine gescheite Idee.  Und ausserdem müssen wir dringend die «Lex Koller» wieder verschärfen. Es fliesst viel zu viel ausländisches Kapital in den Markt – far too much. Um die Bodenrente tobt ein Krieg! Das einzige, was diese börsenkotierten Immobilienunternehmen interessiert, ist, den Bilanzwert hochzutreiben.

Jetzt haben Sie mich verloren. 

Warum haben wir keinen  Manor oder Jelmoli mehr? Und bald auch keinen Globus an der Bahnhofstrasse? Wenn jemand ein Haus für eine Million Franken kauft und 50 000 Franken Miete pro Jahr bekommt, macht die Person fünf Prozent Rendite. Wenn das gleiche Haus später mit zwei Millionen bewertet wird und die Miete gleich bleibt, wären das nur noch 2,5 Prozent Rendite. Also: Je teurer das Haus, desto kleiner der Gewinn im Verhältnis zum Kaufpreis. Darum kurbeln die Investor:innen die Mieten an und schöpfen gesetzeswidrig die Zahlungsfähigkeit maximal aus.  Der Verkehrswert der Immobilie in der Bilanz der Immobilienkonzerne und Pensionskassen hängt aber von den künftigen Erträgen ab. Wenn die Mieten gesteigert wurden, steigt wiederum der Wert der Immobilie und dann sinkt relativ die Rendite wieder, weshalb die Mietpreise wieder in die Höhe getrieben werden müssen. Das System jagt sich rauf und rauf, bis das Maximum aus den Mieter:innen abgeschöpft ist. Wie fatal dieses System ist, haben wir bei Benko und am Beispiel Globus gesehen, dessen Immobilienimperium zusammengestürzt ist. Die Bilanz-Wertsteigerungen durch überhöhte Mietforderungen können als Dividenden an die Eigentümer:innen ausgeschüttet werden. Man holt also künftige noch nicht erzielte Einnahmen in die Gegenwart und schüttet sie aus. Dadurch kam Benko in Liquiditätsprobleme. Als dann seine mietenden Kaufhäuser wegen der übersetzten Mietforderungen zusätzlich nicht mehr zahlen konnten und selber in Konkurs gingen, stürzte sein System vollkommen zusammen. Dasselbe Muster bei Jelmoli, wo die Swiss Prime Site die bestehende Miete um 13 Millionen erhöhte. Überleg mal, wie viele T-Shirts, Rollkoffer und Schminke du verkaufen musst, bis du das drin hast.

Und trotzdem betreffen die nächsten Abstimmungen zur Wohnpolitik alles Initiativen, die laut Mieterverband und SP die Lage der Mieter:innen verschlechtern sollen: Am 24. November stehen erleichterte Eigenbedarfs-Anmeldungen und erschwerte Untermieten zur Debatte – und weitere Forderungen der Immobilienlobby sind bereits in Planung.

Die Immobilienlobby weiss, sie kommt bei der Bevölkerung nicht durch, wenn sie eine Marktmiete statt Kostenmiete und Renditedeckel fordert. Aber de facto hat sie eine Angebotsmarktmiete durchgesetzt, ohne je einen Buchstaben des Gesetzes zu ändern. Also will sie auf diesem Pfad weitergehen und hat ein konzertiertes Vorstosspaket mit sechs Vorstössen eingereicht.Zuerst ging es um das Anheben des Renditedeckels, was dann das Bundesgesetz selbst erledigt hat. Jetzt geht’s darum, dass man die Mieter:innen einfacher los wird, um dann die Mieten zu erhöhen. Und dann folgen zwei Vorstösse, die es fast verunmöglichen, eine übersetzte Rendite nachzuweisen oder diese einzuklagen. Diese haben sie hinterlistigerweise zur Abstimmung im Parlament auf die Dezembersession geschoben.

61 Prozent der Schweizer:innen wohnen zur Miete, sind also direkt von den bevorstehenden nationalen Abstimmungen betroffen. Die ersten SRG-Hochrechnungen sagen aber, dass sie angenommen werden. Was machen Sie, damit das nicht eintritt? 

Nein, nicht wir. Das liegt an euch Medien! Die Argumente liegen auf dem Tisch. Dass die Leute den Immobilienmarkt nicht checken, das liegt an den Medien. 

Das stimmt so ja nicht ganz: In Umfragen nennt die Stadtbevölkerung das Thema Wohnen als grösste Sorge.

Entschuldigung, das ist falsch. Die Leute verstehen das Problem nicht. Sie sehen: «Ich muss mehr Miete zahlen», aber sie sehen nicht das System, das dahinter steht. Stattdessen wird ihnen eingeredet, es liege an der Zuwanderung und man müsse nur mehr bauen. Bis Ende 2020 wurde aber weit über die Zuwanderung gebaut, die Leerwohnungsziffer in der Schweiz stieg auf den zweithöchsten Stand aller Zeiten. Und trotzdem sind die Mieten massiv gestiegen, obwohl sie allein wegen der historisch tiefen Zinsen hätten massiv sinken sollen. Daran sieht man, dass die Angebotsmarktmiete durchgesetzt wurde, die sich dadurch auszeichnet, dass der Anbieter den Preis diktieren kann. Zürich hat immer eine Übernachfrage, hatte schon immer eine Leerwohnungsziffer gegen null. Das liegt in der Natur der Sache: Alle wollen dort wohnen, wo die Arbeitsplätze sind.  Deshalb können die Vermieter auch die Preise diktieren, weil das an sich gute Mietrecht nicht durchgesetzt wird. 

Man kann den Medien ja vorwerfen, zu wenig zu berichten. Aber was tun der Mieterverband und die politische Linke, damit sich etwas ändert?

Genau dafür arbeiten wir, tamminomal! Es nervt, dass man uns vorwirft, nichts zu tun, obwohl wir seit über 140 Jahren im Notwehrmodus sind. Und kantonal und vor allem kommunal riesig viel erreicht haben. Zuerst müssen die Medien ran: Man muss die Verhältnisse erklären, damit sich die Dinge ändern können. Trotz des intensiven Baus stagnieren die Genossenschaften in Zürich bei 25 Prozent, während die kommerziellen institutionellen Anbieter – also börsenkotierte Immobilienfirmen und Fonds – in den letzten zwölf Jahren auf 33 Prozent gestiegen sind – ein very unfriendly Takeover unseres Bodens! Doch in Bern stösst man mit parlamentarischen Initiativen bei der Immobilienlobby auf eine eiserne Blockade.

Also gehen Sie Weg über die Kantone und Städte.

Auf kantonaler und kommunaler Ebene haben wir und arbeiten wir an Rahmenbedingungen für gemeinnützigen Wohnbau, dem Vorkaufsrecht von Gemeinden, Mietpreiskontrollen nach Sanierungen, Verkaufsverboten von Grundstücken für Gemeinden, Erhöhungen der Anteile an Gemeinnützigen.

Die Stadt Zürich stimmt ja auch darüber ab, ob der Ausbau von gemeinnützigen Wohnträgern noch mehr gefördert werden soll. Gibt es keinen anderen Weg, als dass die Stadt auch in den Bieterkampf einsteigt?

Wir müssen die Eigentumsverhältnisse ändern. Fertig. Da führt kein Weg dran vorbei. In den 1940er-Jahren investierte das Rote Zürich die Hälfte des Budgets in Landkäufe. Damals gab es Diskussionen, man heize damit den Markt an und der Preis sei übertrieben. Heute ist der Quadratmeter 13 000 Franken wert, völlig egal, ob du damals 100 oder 200 Franken bezahlt hast.  Das Geld in den Boden investiert, rentiert auf lange Sicht um die 800 Mal besser, als wenn man das gleiche Geld in Staatsobligationen gesteckt hätte. Wenn der Staat Boden kauft, wird immer gejammert, das sei eine Ausgabe. Falsch! Das ist Aktiventausch – also Bargeld gegen Boden – und immer Big Business für die Gemeinden. Es spült jährlich Baurechtszinsen in die Stadtkasse und die Bodenwertsteigerungen bleiben im Volksvermögen. Beim kollektiven Eigentum, das der Staat im Baurecht an Genossenschaften vergibt, fliesst die Bodenrente zu 100 Prozent in die Allgemeinheit und bei Investitionen in die Infrastruktur subventioniert sich der Staat selber und nicht Blackrock.

Sie wohnen ja auch im Eigentum, hier um die Ecke. Vermieten Sie auch?

Nein, ich vermiete nichts, das ist selbstbewohntes Eigentum. Dadurch ergibt sich ja auch eine Sistierung der Bodenrente. Da zahlst du ein bisschen was an die Bank, die macht etwas fürschi bei deinen Zinsen, aber es fliesst keine Rendite irgendwohin ab. 

Gibt es denn gar keine kommerziellen Bauprojekte, die Sie gut finden? 

Nein, da gibt es nichts. Schau dir mal an, was die Kommerziellen bauen: Seelenloses Zeug. Hier trieft die Renditeorientierung schon aus den Betonporen raus. Es geht nur darum, die Rendite zu maximieren, respektive den Bilanzwert zu pimpen. Stand jetzt bauen die falschen Leute aus den falschen Gründen die falschen Sachen. 

Was halten Sie von der Aufstockungsinitiative? Damit wollen die Bürgerlichen in der Stadt den Raum erweitern. 

Ich habe nichts gegen Aufstocken, aber Verdichtung hat absolut ihre Grenzen, weil die In­frastrukturen nicht mehr mithalten und die Leute sich nicht mehr wohl fühlen. Zudem: Das hilft rein gar nichts gegen die hohen Mieten.

Was ist denn Ihre Antwort darauf, dass immer mehr Leute nach Zürich ziehen wollen?

Die Leute wollen dort leben, wo sie arbeiten. Und das sollten wir ermöglichen, aber es kann nicht immer Zürich sein. Wir sollten längst Arbeitsplätze dezentralisieren, anstatt alles hier zu bündeln. Wieso bauen wir ein Justizzentrum in der Stadt, obwohl die meisten Gefangenentransporte vom Flughafen kommen? Wieso baut man es nicht in Kloten? Dann könnten wir beim Güterbahnhof Wohnungen bauen, für die einheimische Bevölkerung, die hier lebt und hier ihre Community hat. Wir müssen auch aufhören, über nationale Unternehmenssteuer-Dumpingpolitik Firmen wie Google oder Disney aufzunehmen. Wir reden hier von hunderten Konzernen jedes Jahr. Dies, obwohl das BIP nicht steigt, sondern neu sogar sinkt. Das ist aufgeblähtes Wachstum. Die kommen übrigens nur, um zu nehmen und nicht zu geben und verteuern de facto unseren Wohnraum mit den extrem hohen Löhnen, die sie bezahlen. 

Das heisst es ja auch von Wipkingen, dass sich das Quartier in den letzten Jahren verändert hat.

Ja, wobei, hier geht es noch. Der Idaplatz oder das Seefeld sind viel schlimmer. Wipkingen hat viele Genossenschaften, die die Nachbarschaft stabilisiert haben. Der Röschibachplatz hat sich über die Jahre entwickelt. Klar, es gibt einige Neubauten, aber die Preise sind halbwegs in Ordnung. Und statt der Gelateria gab es früher diesen Laden, wo alle immer ein bisschen einen im Tee hatten, das fand ich sympathisch. Aber auch hier im Nordbrüggli siehst du noch echte Menschen, die hier leben. Nicht die ‹beautiful people› vom Seefeld. 

Wipkingen hat das Wachstum also gut hinbekommen? 

Nein, nicht Wipkingen hat es gut hinbekommen. Das war das Rote Zürich und der Entscheid damals, viel Land aufzukaufen und es den Genossenschaften zu geben.

Dieses Interview ist am 7. November auf tsüri.ch erschienen.