Michel Strübin, betrieblicher Mentor der kantonalen Justizdirektion, lässt sich auch in fingierten Konfliktsituationen nicht von Inhaftierten bestechen. (Bild: Tim Haag)

U-Haft ohne Schock und Schaden

Mit einem Modellversuch wollen die Kantone Zürich und Bern die Untersuchungshaft humaner gestalten. Das Projekt fokussiert auf Stressmanagement und den Erhalt der sozialen und beruflichen Ressourcen der Inhaftierten. 

«Wenn du mich telefonieren lässt, organisiere ich dir, was du willst – egal was, aber ich brauche jetzt unbedingt mein Handy», schallt es im Gefängnis Meilen aus einer Zelle. Die Tür ist zu, nur zwei tätowierte Arme gestikulieren energisch fordernd  aus der offenen Essensklappe heraus – ein klarer Regelverstoss: «Wir können das Problem in der Zelle besprechen, aber zuerst müssen Sie Ihre Hände aus der Klappe nehmen, das wissen Sie doch», erwidert Michel Strübin, betrieblicher Mentor der kantonalen Justizdirektion, vorbildlich den Regeln der taktischen Kommunikation folgend (z.B. «Optionen anbieten», «Abmachungen klar formulieren»). Nach einigem Hin und Her lässt sich der Inhaftierte  beschwichtigen («letzte Chance geben»), Strübin öffnet die Zellentür und begibt sich hinein. Die Besprechung des Telefon-Problems («Sachverhalt erfragen») und eine allfällige Bestechung (nicht Teil des taktischen Kommunikationskonzepts) wird von einem jähen «Übung Abbruch!», das durch den Gang hallt, verhindert. Strübin und sein Schlüsselbund werden dringend anderweitig benötigt: Man habe versehentlich Frau Regierungsrätin Fehr eingesperrt. Das Malheur sorgt für Erheiterung bei Strübin, dem Inhaftierten – gespielt von Betreuer Alexander Schleicher – und den Journalist:innen, die der Demonstration des neuentwickelten Ausbildungsprogramms für U-Haft-Mitarbeiter:innen beiwohnen, während sich die unschuldig inhaftierte Regierungsrätin in der Zwischenzeit durch eine andere, offene Tür befreien kann. 

Von der Anti-Folter-Kommission gerügt

Ziel der schauspielerisch übrigens recht überzeugend vorgetragenen Demonstration: Zeigen, was künftig in der Schweizer Untersuchungshaft besser laufen soll, und was im Rahmen des Modellversuchs U-Haft der Kantone Zürich und Bern seit 2023 in elf Untersuchungsgefängnissen erprobt wird. Das genannte Ausbildungsprogramm – eine fünftägige Praxisausbildung für Betreuer und Aufseherinnen – ist eines von sechs Schwerpunktthemen des Versuchs, den Jacqueline Fehr, Vorsteherin der Direktion der Justiz und des Innern, der Berner Sicherheitsdirektor Philippe Müller und Versuchsleiter Stefan Tobler an einer Medienkonferenz am Dienstagvormittag im Meilemer Schulungsgefängnis vorgestellt haben. Gemäss Fehr setze der Modellversuch die schon zehn Jahre andauernden Reformierungsbemühungen der Untersuchungshaft fort. Zentrales Ziel der Bemühungen sei, Haftschäden (negative psychische, physische und soziale Folgen, die aus den Haftbedingungen resultieren, z.B. Depressionen, Geldprobleme, Jobverlust) zu verhindern und den Inhaftierten die Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu erleichtern. Ein unbedingt notwendiger Schritt, hatte doch 2014 die Schweizer Anti-Folter-Kommission die U-Haft-Bedingungen in der Schweiz als vielerorts «nicht konform mit den Grundrechten» gerügt. Inhaftierten blieb beispielsweise die Möglichkeit, sich sportlich zu betätigen verwehrt, in den meisten Einrichtungen blieben sie über 20 Stunden am Tag in Einzelhaft eingeschlossen, und an einigen Orten wurden generelle Besuchsverbote verhängt – trotz Unschuldsvermutung und mit Flucht-, Verdunklungs- und Wiederholungsgefahr als Begründung.

Bei ihrem Amtsantritt 2015 habe sie sich gefragt, «ob das alles denn so sein und bleiben muss», sagt Jacqueline Fehr an der Medienkonferenz. Es muss nicht: Heute dürfen die Zürcher U-Häftlinge mehr als einmal pro Woche duschen, sind grösstenteils im Gruppenvollzug und verbringen bis zu acht Stunden pro Tag ausserhalb der Zelle. Man wolle ja, dass sich die Inhaftierten «unseren» Werten anpassen, und: «Wie man in den Wald hineinruft…» Neu soll die Untersuchungshaft «noch stärker darauf ausgerichtet sein, die Ressourcen der verhafteten Personen zu erhalten», erläutert Fehr. Philippe Müller ergänzt: «Je mehr Haftschäden behandelt werden müssen, desto höher sind die Kosten der Wiedereingliederung.» Gleichzeitig bleibe die Untersuchungshaft aber eine Haft, und zwar die restriktivste. Auf die eigentliche Strafverfolgung dürfe der Modellversuch keinen Einfluss haben. 

Um Haftschäden zu vermeiden und die Ressourcen der Inhaftierten zu stärken, setzen die Reformen bereits zu Beginn der Haft an. Fachpersonal führt innerhalb der ersten drei Tage ein «Lebenseintrittsgespräch» mit neuen Inhaftierten, um sie zu unterstützen – zum Beispiel bei der Finanzierung des Erwerbsausfalls, aber auch bei der Suche nach jemandem, der die Katzen füttert. Ausserdem soll das Programm Prisma (Prison Stress Management) eingesetzt werden, um dem Haftschock und -Stress mit Atemübungen und psychologischem Training entgegenzuwirken. Die Förderung von familiären und sozialen Kontakten sowie ein strukturiertes Übergangsmanagement sind weitere Säulen des Projekts. Die Teilnahme am Programm ist für die Inhaftierten freiwillig, gemäss Fehr nutzen «zwei von fünf» das Angebot.

«Ein erster Schritt»

Die Kosten für den Modellversuch belaufen sich auf 12 Millionen Franken, wobei Zürich die Hälfte davon trägt und Bern und Bund je drei Millionen Franken beisteuern. Den entsprechenden Beschluss fällte der Regierungsrat im Dezember 2021. Die begleitende Forschung von der ETH und der Universität Zürich wird Daten liefern, die bis 2026 eine gründliche Bewertung des Programms ermöglichen sollen. Überzeugt der Modellversuch, sollen seine Methoden auch in anderen Kantonen zur Anwendung kommen.

Während sich ein Ex-Kantonsrat und Journalist im Presseraum über den vermeintlichen Kuscheljustizvollzug im «Hotel Zürich» und «Hotel Bern» echauffierte, spricht die SP in einer Medienmitteilung von einem «ersten Schritt zur Verbesserung der U-Haft», fordert zudem aber eine zurückhaltendere Anordnung von Untersuchungshaft. «Verbesserte U-Haftbedingungen schützen nicht nur die Rechte der Inhaftierten, sondern reduzieren auch die für die Gesellschaft anfallenden Folgekosten, die durch Haftschäden entstehen», wird Kantonsrätin Leandra Columberg zitiert.