Trau, schau, wem!

Mit zwei auf den ersten Blick komplementär wirkenden Ausstellungen verabschiedet sich Peter Pfrunder nach 26 Jahren als Direktor der Fotostiftung Schweiz. Bei tieferer Auseinandersetzung schält sich indes die Parallele derselben Relevanz heraus, die gleichwohl dem Medium wie den Zeitläuften immanent ist.

Der Waadtländer Bernard Voïta (*1960) verwendet zwar die Fotografie, um seine Arbeiten fertigzustellen, aber eigentlich ist er ein Plastiker im Sinne der Bildenden Kunst. Akribisch baut er im Atelier aus Fundstücken geometrische Landschaften, die sowohl durch die Wirkung einer Verschiedenheit in den Tiefen als auch in den horizontalen Ebenen den Eindruck eines Trompe-l’oeuils erwecken. Verstärkt durch eine scharf voneinander getrennte Ciaroscuro-Fokussierung, die teils mit klassischen Studiomitteln wie Schattenwurf und Lichteinstellung, teils mit in die Konstruktionen eingebaute getönte Scheiben das Verwirrspiel in den Dimensionen noch weiter treibt. Die wandfüllenden Abzüge geben auf zweierlei Weisen der Betrachtung ein wiederum verschiedenes Bild ab.

Eine Skepsis wecken und damit hinterfragen, ob dies, was hier zu sehen ist, eine Realität abbildet oder eine Inszenierung abbildet oder gar bereits einen manipulativen Charakter aufweist.

Als Gesamteindruck aus der Ferne und als durchaus ergründbares Wimmelbild aus der Nähe. Die dafür verwendeten Utensilien sind allesamt so profan, dass eine Anlehnung an das Readymade auf der Hand liegt. Letztlich ist sein Arbeiten nicht unähnlich mit den aufwändigen filmrealistischen Inszenierungen eines Gregory Crewdson, der 2006 im Fotomuseum gezeigt worden war. Die Wahnsinnsarbeit besteht aus dem Aufbau, die Fotografie dient zuletzt dem Festhalten davon. Verblüffend daran ist, so erklärt er es im Interview mit Peter Pfrunder im Begleittext, dass er diese Arbeitsweise bereits verfolgte, als Fotografie noch eine analoge Angelegenheit war. Die räumliche Perfektion seiner Konstruktion sich erst nach und nach überhaupt herstellen liess. Die kuratorische Absicht, eine Skepsis zu wecken und damit zu hinterfragen, ob dies, was hier zu sehen ist, eine Realität abbildet oder eine Inszenierung darstellt oder bereits von einem sogar eindeutig manipulativen Charakter zeugt, schlägt die Brücke zur zweiten, kleineren Ausstellung «Paare/Couples». Und ist zugleich seit der Geburtsstunde der Fotografie eine ewige Fragestellung, die im Digitalen inklusive einer sogenannten Künstlichen Intelligenz die Rolle des Dauerbrenners behalten wird.

Skepsis wecken, Welten eröffnen

Der Titel der zweiten, gemeinsam mit Iwan Schauwecker erstellten Arbeit ist recht offen interpretiert worden. Die ausgestellten Werke überspannen einen Zeitraum von über neunzig Jahren und sind lose thematisch gegliedert. Das titelgebende Paar meint einfach zwei. Von «Melancolia» herkommend, ist die Achtsamkeit geweckt. Inwiefern beispielweise John Humphrey Spenders «Die Umkleide von Manchester United» aus dem Jahr 1938 einer Reportage entstammt oder eine mehrdeutige Inszenierung darstellt, lässt sich nicht abschliessend klären. Spielt aber nur eine untergeordnete Rolle, weil die damit eingefangene Geschichte an sich ohnehin mehrschichtig ist. Ob die «Auswanderer» von Pio Corradi aus dem Jahr 1978, zwei müde, ältere Personen, die in einer Art Wartsaal in mehreren Schichten Kleider eingepackt und übervollen Koffern zu ihren Füssen tatsächlich ein Paar oder einfach zwei Menschen auf der Flucht zeigen, ist für die Wirkung und die universelle Gültigkeit dieser Aufnahme ebenso wenig von Belang. In diesem Ausstellungsteil kommen noch weitere Ebenen hinzu, denen mit Skepsis begegnet werden soll. Die hochgradig voyeuristische Serie «Red Light» von Kurt Caviezel aus dem Jahr 2000, die Makroaufnahmen von Handlungen auf dem Strassenstrich durch die Frontscheibe vereint, stellt die Frage nach der Berechtigung einer solchen Aufnahme. Im Fall von «Day to Day» von Doris Schmid aus dem Jahr 2016 ist das formal fein austariert auf einer Bank sitzende Paar (von hinten) nur ein Element innerhalb einer Gesamtkomposition, die allein die Bildspannung steigert. Bei anderen, wie Walter Pfeiffer, ist die Profession des Werbefotografen bekannt, die fein austarierte Inszenierung anzunehmen, während bei zeitlich sehr weiter zurückliegenden Bildern wie etwa eines Gotthard Schuh die Ambivalenz nicht restlos aufgelöst werden kann. Die getroffene Auswahl vereint praktisch sämtliche erdenklichen Absichten von Fotograf:innen überhaupt, bis hin zum gemäldeartig kunstvoll drapierten Bildaufbau, der davon zeugt, zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen zu sein, und Jahrzehnte später auch das Element des Bewahrens von Vergänglichkeit meint. Was wiederum die Grundfrage auf eine erneut weitere Weise aufwirft: Ob darin nicht vielleicht auch eine betrachtungsseitige Verklärung stecken könnte.

Bernard Voïta: «Melencolia» und «Paare/Couples», bis 6.10., Fotostiftung Schweiz, Winterthur. Kataloge.