Tote

von Markus Ernst

 

Also, mit Toten will ich ja nun gar nichts zu tun haben, sage ich immer zu meinem Mann; ich meine, nichts gegen Tote, sind ja schliesslich auch nur Menschen, aber es ist doch so wie mit den Rockern oder Drogenabhängigen oder Tamilen: Ich lasse sie in Ruhe, sie lassen mich in Ruhe. Leben und leben lassen. Sonst hat man nur Ärger. 

 

Das hat auch schon meine Mutter immer zu meinem Vater gesagt: Toten soll man nicht zu nahe kommen, das gibt nur Ärger. Und dann ist ja letztes Jahr meine Grossmutter gestorben, die Mutter von meinem Vater, und meine Mutter hat noch zu meinem Vater gesagt, lass die Finger von ihr, das gibt nur Ärger, die Leute vom Altersheim können das doch machen, aber er wollte ja nicht hören und hat sie angefasst, und dann hat ihn die Polizei verhaftet wegen der Würgemale am Hals von meiner Grossmutter. Nichts als Ärger hat man mit den Toten. Und als er zwei Monate später in der Untersuchungshaft verschied, wollte meine Mutter dann natürlich nichts mehr mit ihm zu tun haben, weil, aus Schaden wird man klug, hat sie immer zu meinem Vater gesagt, und das musste er nun halt an seinem eigenen Leib erfahren, bei seiner eigenen Beerdigung. Ich bin auch nicht hingegangen, weil, wie gesagt, mit Toten will ich nichts zu tun haben. Und meine Mutter und ich, wir leben heute noch, das ist doch der beste Beweis.

 

Mein Mann aber, der konnte es natürlich nicht lassen, er musste auf die Beerdigung gehen. Er hatte halt immer seinen Dickschädel. Dabei war es ja nicht mal sein eigener Vater, sondern nur sein Schwiegervater, und erst noch ein Häftling, also da hätte er ja wirklich kein schlechtes Gewissen haben müssen. Und ich habe noch zu ihm gesagt, von Toten soll man die Finger lassen, das gibt sonst nur Ärger, aber er meinte, ich solle mich schämen, so über meinen Vater zu sprechen. 

 

Und das hat er jetzt davon.

 

Man sieht es ja beim Gefängnis. Der Gefängnisdirektor wurde entlassen, und fünf Mithäftlinge wurden drei Tage lang von der Polizei verhört wegen der Würgemale am Hals von meinem Vater, einer von ihnen ist ja unterdessen auch schon gestorben, und die vier anderen haben sich gegenseitig spitalreif geschlagen. Sie hätten ihn halt in Ruhe lassen sollen, mit Toten soll man sich nicht abgeben, aber wem sage ich das, mein Mann weiss es ja genau, er hätte halt auf mich hören sollen und nicht auf die Beerdigung gehen, das hat er jetzt davon.

 

Meine Mutter und ich, wir leben noch, das ist der Beweis. Morgen fahren wir zusammen nach Mallorca an die Sonne. Ein bisschen unter die Lebenden, habe ich zu ihr gesagt, und sie war sofort einverstanden. Und wenn wir zurückkommen, werde ich bei ihr einziehen, sie hat ja jetzt wieder genug Platz und ist oft allein, und bei mir zuhause ist es ja auch nicht mehr so angenehm, weil mit Toten will ich wirklich nichts zu tun haben, das gibt nur Ärger, und mein Mann riecht nicht mehr sehr gut, die ganze Wohnung stinkt schon so süsslich, und er ist auch kein schöner Anblick, wie er im Wohnzimmer vor dem Fernseher liegt mit seinen Würgemalen am Hals. Er hätte halt auf mich hören sollen, das hat er nun davon.

 

Anstelle einer Kolumne erscheint diese Woche eine Kurzgeschichte von Markus Ernst. www.derernstdeslebens.ch

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