- Post Scriptum
Tordesillas 2.0
Im 15. Jahrhundert waren die beiden führenden Seefahrtsnationen Portugal und Kastilien, das heutige Spanien. Beide Seiten versuchten, sich mithilfe päpstlicher Erlasse ihre Monopolansprüche auf bestimmte Gebiete und Schifffahrtsrouten sichern zu lassen. Nach dem Kastilischen Erbfolgekrieg (1474–1479) und den Entdeckungen von Christoph Kolumbus wurde eine Einigung dringend. So schlossen der portugiesische König Johann II. sowie Isabella und Ferdinand von Kastilien am 7. Juni 1494 in der spanischen Stadt Tordesillas einen Vertrag, in dem sie die Herrschaftsgebiete ihrer Königreiche im Atlantik neu abgrenzten. Es wurde eine gerade Linie vom Nord- zum Südpol gezogen, die Südamerika im Bereich des heutigen Brasiliens schnitt. Portugal erhielt alles Festland und alle Inseln östlich dieser Linie (also insbesondere auch Brasilien und Afrika), Spanien durfte sich westlich der Linie alle bekannten und neu zu entdeckenden Gebiete aneignen.
Mit dem Vertrag von Tordesillas teilten also die mächtigsten Herrscher die damals bekannte Welt unter sich auf. Aus heutiger Sicht eine unerhörte Idee, nicht? Aber so, wie sich die Weltlage gerade entwickelt, doch gar nicht so abwegig. Wenn sich 2030 die führenden Weltmächte wieder in Tordesillas treffen, um über die Aufteilung ihrer Einflusssphären zu verhandeln, werden anstelle Johanns, Isabellas und Ferdinands vermutlich Gottkaiser Elon I. vom Vereinigten Imperium Nordamerika und Grönland (mit seinem Hofnarren Donald), Zar Wladimir I. von Russland und der Überragende Führer Xi am Tisch sitzen.
Der erste Konfliktpunkt wird die Mongolei sein, auf die Xi nun schielt, nachdem er Taiwan soeben kampflos in China einverleibt hat. Wladimir stellt sich auf den Standpunkt, dass die Mongolei zwar nicht formell, wohl aber faktisch ein Teil der Sowjetunion gewesen sei und deshalb traditionell unbestreitbar zu Russland gehöre; überhaupt sei sie für China ohne Wert, es solle sich doch besser nach dem wirtschaftlich interessanteren Japan orientieren, mit dem es ja sowieso noch eine Rechnung offen habe. Donald klopft auf den Tisch und ruft, er wolle jetzt endlich über Panama reden – dort machen sie schlimme Sachen! Elon heisst ihn schweigen und gibt zu bedenken, dass die japanische Wirtschaft für amerikanische Investoren unverzichtbar und die Unabhängigkeit Japans deshalb nicht verhandelbar sei. Er schlägt vor, Russland möge China die Mongolei überlassen und dafür in der Ukraine endlich Nägel mit Köpfen machen. Wladimir akzeptiert unter der Bedingung, dass ihm ansonsten bei der Wiederherstellung des russischen Vaterlands in den Grenzen des Warschauer Paktes von 1989 keine Steine mehr in den Weg gelegt werden. Xi wirft ein, ob dies denn bei der Nato und insbesondere Deutschland und Polen nicht Widerstand wecken würde. Wladimir und Elon brechen in Gelächter aus. Donald will jetzt endlich über Panama reden – eine Mauer an der Südflanke des Kanals ist viel kürzer und deshalb billiger als in Mexiko! Wladimir heisst ihn schweigen, trocknet sich die Augen und dankt Elon dafür, dass er das Assoziierungsgesuch der deutschen Regierung an Russland eingefädelt hat; auch Frankreich, Italien und Österreich seien bereits mit derartigen Ansinnen an ihn gelangt.
So oder ähnlich stelle ich mir das vor. In der nun etwas isolierten Schweiz wird die SVP, die seit den Parlamentswahlen 2027 mit absoluter Mehrheit und sieben Bundesräten regiert, sich in internen Flügelkämpfen aufreiben. Freiheit und Unabhängigkeit seien nur durch einen Anschluss an Russland zu sichern, so die Mehrheitsmeinung in der Bundeshausfraktion. Propagandaminister Köppel aber will die Gunst der Stunde nutzen: «Beseitigen wir endlich die Schmach, die uns die EU seit 1815 zumutet! Holen wir uns das Veltlin zurück!»