Toleranz ist die beste Radikalisierungsprävention

In einem neuen Handbuch sind Qualitätskriterien und Standards für die Arbeit zur Verhinderung und Bekämpfung von Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus versammelt. Matthias Erzinger hat sich mit Urs Allemann, einem der Initianten des Projektes unterhalten.

 

Matthias Erzinger

 

Unter dem Eindruck der Dschihad-Reisenden und des islamistischen Terrors trat 2017 ein Nationaler Aktionsplan zur Verhinderung und Bekämpfung von Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus in Kraft. Er sah unter anderem die Schaffung von regionalen Fachstellen für die Beratung und Frühintervention vor. Bereits 2016 wurde in Winterthur eine solche Stelle geschaffen. Zusammen mit den Stellen in Basel, Bern und Genf hat diese Stelle nun ein Handbuch zum Thema Radikalisierung erarbeitet, in welchem erstmals auch Qualitätskriterien und Standards für die Arbeit solcher Stellen formuliert wurden.

 

Herr Allemann, Sie sind einer der Initianten des Handbuchs «Radikalisierung in der Schweiz». Wozu braucht es ein solches Handbuch?

Das Handbuch ist wichtig auf drei Ebenen. Zum ersten stellt es einen Schritt zur Professionalisierung unserer Arbeit dar. Rund um das Projekt «Handbuch» haben wir uns erstmals untereinander ausgetauscht. Unser «Fachgebiet» kann man nirgends lernen oder studieren. Die vier Fachstellen, die sich an diesem Projekt beteiligt haben, kommen aus sehr unterschiedlichen Kreisen, haben verschiedene Umfelder und Hintergründe. Es sind die Pionierstellen, die bereits vor dem Inkrafttreten des Nationalen Aktionsplanes 2017 geschaffen wurden.

Lange Zeit hat jeder an seinem Ort vor sich hingearbeitet, ja wir haben teilweise sogar darauf geachtet, unsere Arbeit nicht zu stark in die Öffentlichkeit zu tragen, aus Angst auch vor dem Medienaufruhr, den Einzelfälle auslösen können. So wussten wir in Winterthur nicht, mit welchen Fragen sich zum Beispiel die Fachstelle in Basel auseinandersetzt, welche Erfahrungen sie gemacht hat. Durch das Projekt Handbuch sind wir uns näher gekommen und haben gemeinsam Fälle diskutiert. Schon allein dieser Austausch hat zu einer starken Verbesserung unserer Angebote geführt. Es hilft zu sehen, wenn in Genf ein sehr ähnlicher Fall auftritt, diese hier etwas zu relativieren, nüchtern zu betrachten. 

Zum zweiten nützt das Handbuch anderen Beratungsstellen, bei denen Extremismus vielleicht eher am Rande ein Thema ist, um bei einer konkreten Anfrage nicht einfach ins kalte Wasser geworfen zu werden, sondern von unseren Erfahrungen zu profitieren.

Schliesslich finden Einzelpersonen – ob Fachleute wie Lehrpersonen oder schlicht betroffene Eltern – hier in einer einfach verständlichen Sprache Informationen zu Merkmalen einer Radikalisierung und Hinweise, wo welche Hilfe erhältlich ist.

 

Wie hat sich in den sechs Jahren seit der Gründung ihrer Fachstelle in Winterthur das Umfeld verändert?

Die Fachstelle wurde aufgrund der Islamismus-Debatte und der Vorgänge um die An-Nur-Moschee initiiert. Neben der Beratungstätigkeit war damals auch die Vermittlungsrolle stark gefragt. Das heisst: Wir mussten zwischen der Stadt und den religiösen Vereinen auch vermitteln. Man kannte sich nicht. Und wir hatten wenig Erfahrung mit der Sicherheitsrelevanz von bestimmten Vorgängen.

Heute machen Anfragen aus dem Umfeld des Islam noch bis gegen die Hälfte aller Anfragen aus. Ungefähr jede zehnte davon hat effektiv einen sicherheitsrelevanten Aspekt, so dass wir die Polizei einschalten. Die meisten Fragen drehen sich jedoch eher um die Religion. Oder jemand provoziert und fällt auf, ist jedoch weit weg davon, ein Gefährdungspotenzial zu haben. In Winterthur fällt jemand noch schneller auf als in Zürich. Darum ist es wichtig, immer auch die Grenzen zwischen der Religion oder einer Ideologie und illegalem Extremismus zu beachten. Es ist so, dass diese Grenzen gerade auch in den Medien nicht immer klar gezogen werden. Genau in diesem Bereich ist es wichtig, über Standards verfügen zu können. Aber natürlich müssen die dynamisch sein, denn es gibt in diesem Umfeld vor allem eine Konstante: dass sich alles laufend verändert. Gerade deswegen sind aber auch Strukturen notwendig, die unserer Arbeit eine Basis geben. 

 

Wie haben die Fachstellen auf diese Veränderungen reagiert?

Wir haben in den sechs Jahren unser Dienstleistungsangebot laufend weiterentwickelt, geschärft und verbessert. Nach wie vor ist die Beratung eine der wesentlichen Säulen. Sie muss niederschwellig, vertraulich und transparent sein. Ein zweiter Tätigkeitsschwerpunkt ist die Präventions- und Sensibilisierungsarbeit. Dazu gehören Öffentlichkeitsarbeit, Vorträge, aber auch die Erarbeitung von einfachen Dokumentationen zu bestimmten Bereichen. Wir in Winterthur haben zum Beispiel eine Broschüre über den Umgang mit radikalen Personen und Gruppierungen produziert, die auf sehr grossen Anklang gestossen ist.

Den dritten Schwerpunkt unserer Tätigkeit bilden die Vernetzung und ein ständiges Beobachten und Analysieren von Trends. Es gibt im Kanton Zürich ein Bedrohungsmanagement, in der Stadt Winterthur bei der Stadtpolizei den Gewaltschutz. Es bringt sehr viel, dass wir mit diesen Leuten auch mal einen Fall anonymisiert besprechen können. 

 

«Extremismus» ist an sich ein wenig präziser Begriff. Wir geht ihr damit um, dass der Begriff fast je nach Lust und Laune jeweils auf «die anderen» angewendet wird? 

Zu Beginn meiner Arbeit habe ich mich auch etwas an diesem schwammigen Begriff gestört. Auf der anderen Seite sind wir halt mit diesem Label sehr gut auffindbar. Natürlich gibt es den Extremismus, der von den politischen Polen her agiert. Geschichtlich gesehen ist aber Extremismus vielfach aus der Mitte der Gesellschaft entstanden – auch der nationalsoziale. Deutschland ist dadurch – und durch den Links-Terrorimus – sensibilisiert für die Extremismusprävention und hat da auch schon eine viel grössere Erfahrung als wir in der Schweiz.

Es bestehen bezüglich «Extremismus» auch teilweise völlig falsche Vorstellungen. Zum Beispiel wird immer wieder geschrieben, XY sei Mitglied einer islamistischen Gruppierung. Auch in der Bevölkerung besteht das Vorurteil, das es so etwas wie Mitgliedschaften in solchen Gruppierungen gäbe. Als die An-Nur-Moschee 2017 ihren Betrieb einstellte, verteilten sich ihre ehemaligen BesucherInnen einfach auf andere Moscheen. Auch da mussten wir vermitteln, weil die verschiedenen Vereine Angst hatten, sie würden nun mit Islamisten überschwemmt. 

 

In den letzten zwei Jahren hat sich ein neues Radikalisierungsfeld geöffnet. Bei den Gegnerinnen und Gegnern von Corona-Schutzmassnahmen. Die kommen auch aus der Mitte der Gesellschaft …

Die Corona-Pandemie hatte sehr breit Radikalisierungen zur Folge. Man konnte das bei bestimmten Personen fast greifbar verfolgen, wie die stündlich radikaler wurden.

Und tatsächlich: Hier kam die Radikalisierung nicht von rechts- oder links-aussen. Die klassischen Muster sind wie weg, man kann das nicht gut beschreiben. Aber wir hatten plötzlich eine grosse Gruppe von Menschen, die auf die Behörden losgingen. In der ersten Zeit des Lockdowns blieb es ruhig, und dann ging es los. Die Anfragen häuften sich. Da ist ein Vater mit zwei Kindern, dessen Mutter sich plötzlich in Verschwörungskreisen bewegte. Soll er die Kinder weiterhin zur Mutter bringen? Wie kann er der radikalisierten Mutter begegnen, ohne die ganze Beziehung zu zerstören? Überrascht hat mich die Aggressivität gegenüber den Behörden und dem Staat. Nun ist nicht mehr der klassische Skin-Head, der Islamist oder eine Antifa-Frau im Zentrum. Nun ist es der Bruder, die Nachbarin, die Arbeitskollegin.

 

Warum sind Extremismus und Radikalisierungstendenzen in Winterthur viel stärker im Gespräch als in Zürich?

Winterthur ist in vielen Bereichen noch eher bei einer Kleinstadt oder einem Dorf. Da erhalten Einzelfälle rasch ein viel grösseres Gewicht. Und werden viel schneller auf die politische Ebene gebracht. Ohne das zu werten: Winterthur hat sechs islamische Vereine, Zürich sicher ein Vielfaches davon. Aber die Grossstadt ist in vielen Bereichen toleranter, grosszügiger. Gerade bezüglich Extremismus scheint mir auch eine gewisse Gelassenheit wichtig für die Prävention. Eine Stärkung der demokratischen Strukturen und von Toleranz ist die beste Prävention gegen Extremismus und Radikalisierungen.

 

Das Handbuch Radikalisierung in der Schweiz ist digital erhältlich bei: www.stadt.winterthur.ch/fseg

 

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