Tanzende Schulterblätter

Zum seinem 25. Jubiläum schenkt sich das Tanztheater Dritter Frühling für Personen ab 65 Jahren eine dreigeteilte Auseinandersetzung mit Igor Strawinskys «Le Sacre du Printemps». Entgegen der Uraufführung verbleiben die tumultartigen Szenen hier allein auf die Bühne beschränkt.

Die Revolution zuerst. Angelika Ächter und Katrin Oettli stellen für die Choreographie «Zopf ab» die rituelle Feier des Frühlings in wechselnden farbenfrohen Bildern in den Mittelpunkt und konterkarieren die bekannte Geschichte der finalen Jungfrauenopferung mit dem Ausbruch einer Revolte. Der Musiker Ralf Buron beschränkt sich in seiner Livemusik auf die ikonischen Fanfarenklänge und Paukenschläge, die er mit pointiert gesetzten symphonischen Zitaten aus dem Synthesizer vielmehr in Richtung eines thematischen Rahmens lenkt. Die vierzehn Tänzer:innen stellen vergleichbar einschlägige Szenenbilder für aufkeimendes Leben, erste Kraft spendende Sonnenstrahlen und eine daraus folgende Feierfreude her. Vermutlich ursächlich von Angelika Ächters enzyklopädischer Kenntnis der Tanzgeschichte ausgehend, sind einige der vielfältigen Verwendungen von farbigen Tüchern als Referenz an die Erstaufführung und die darin noch feierlich als Weltläufigkeit inszenierten Anspielungen an einen Exotismus zu erkennen. Ungefähr in der Mitte von «Zopf ab» tritt das Tanzensemble für einen – etwas kurzen – Augenblick in den Hintergrund, um einem rhythmischen Schwarzweissfilm von Katrin Oettli die ganze Aufmerksamkeit zu schenken. Sie zeigt darin Rückansichten der Tänzer:innen, deren verschiedener Hautfaltenwurf und die entsprechend diverse Wirkung der tanzenden Schulterblätter als Altersgewahrwerdung gelesen werden können, die wiederum in Bezug zum Titel und zum alternativen Schluss die Verweigerung gegenüber einer respektive jeglicher Opferhaltung in Richtung einer Selbstermächtigung treibt. Die sichtlich stolze Freude darüber steht den Tänzer:innen ins Gesicht geschrieben und lädt zufolge ihren Schwung mit positivem Elan.

Das Instrument Tänzer:in

Philipp Egli sprengt in seiner in Zusammenarbeit mit Viviane Tita entstandenen Choreographie jedes Korsett. Für «Das Opfer des Frühlingsopfers» werden zwölf Tänzer:innen des Tanztheaters Dritter Frühling mit zwölf sichtlich jüngeren Absolvent:innen der Hochschule für Heilpädagogik Zürich ergänzt, die sich als lebendig werdende Noten einem Dirigenten – und natürlich Strawinskys Partitur – gehorchend, beinahe schon mathematisch streng einem Gesamtbild unterzuordnen haben. Die filigranen, melodiösen oder eben sportiven Sequenzen übernimmt mit Mara Peyer eine Professionelle, die ihr überragendes tänzerisches Können indes genauso wie alle anderen zugunsten der Gesamtwirkung einer Ensembleleistung zurücknimmt. 

Philipp Eglis Ausweitung des Teilnehmer:innenfeldes muss als unbedingter Gewinn angesehen werden, weil damit wie von selbst sehr verschiedene Energien zeitgleich mit je ihrer individuellen Stärke das Ihre dazu beitragen, dass im Resultat eine hell begeisternde Interpretation herausschauen kann. Zudem erweist es sich als Binsenweisheit, dass im Laienbereich die Endlichkeit der körperlichen Verausgabung keine Frage des Alters allein ist, was wiederum aus Publikumsperspektive niemals auch nur eine Ahnung von sichtbar werdender Eingeschränktheit aufkommen lässt. Philipp Egli setzt sämtliche Teile der ihm zur Verfügung stehenden Energien zu ihrem jeweils Besten ein.

Schwarze Schatten

Lea Moro und Julia Keren Turbahn lassen als einzige die gesamte Ballettkomposition von Igor Strawinsky integral ab Band spielen. Ihr «Ano­ther Rite of Spring» richtet sich als einzige der drei Choreographien hauptsächlich in Richtung Düsterkeit, Schattenwurf und der Tragik gelebter Erfahrungen, betont also letztlich die Schwere des Frühlingsopfers mit dem berühmten finalen sich zu Tode Tanzens einer Jungfrau, um die Naturgottheiten besänftigt zu wissen. Die zehn Tänzer:innen kommen hier am deutlichsten an ihre Grenzen, selbst wenn sie eine ausnehmend lange Zeit unter Decken stecken. Die Frage drängt sich auf, inwiefern eine allfällige Ehrfurcht vor der historisch aufgeladenen Grossaufgabe eine choreographische Inspiration recht eigentlich in eine Lähmung versetzt hat. Die kunstvoll angebrachte Maske und das schliesslich zeremoniell wirkende Abwaschen davon betont das theatrale Moment stark, wirkt insgesamt aber im Vergleich mit den anderen beiden Choreographien am Geringsten in seiner Dimensionalität und dem daraus erwachsenden Potenzial. Gerade weil in allen drei Stücken die Absicht einer Neuverortung des Klassikers klar ersichtlich wird. Hier hätte eine noch weitaus radikalere im Sinne von komplettere Loslösung stattfinden dürfen, um der Dominanz der Musik ein reales Gegengewicht als Reibungsfläche hinzustellen und darüber etwas genuin Drittes ergo Kunst zu entwickeln.

Tanztheater Dritter Frühling: «Zopf ab», «Ano­ther Rite of Spring», «Das Opfer des Wohlfühl­opfers», 27.5., Kulturmarkt, Zürich.

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