- Gedanken zur Woche
Swiss Exceptionalism
Das mit der Wahrung der Menschenrechte ist ja so eine Sache. Sich als Staat diesem Grundsatz zu verschreiben, bedingt eine Auseinandersetzung damit in verschiedenen Bereichen. Die Legislative soll in der Gesetzgebung beachten, dass die Wahrung der Menschenrechte berücksichtigt wird, die Gerichte sollen aufpassen, dass nicht dagegen verstossen wird, und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg regelt die Verurteilung von Staaten, die trotzdem gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verstossen. 1974 hat die Schweiz die EMRK ratifiziert. Sowohl in der Gegenwart als auch in der Vergangenheit machen sowohl Staat als auch Schweizer Städte, beziehungsweise deren Institutionen, vor allem eines in Bezug auf die Wahrung der Menschenrechte: Negativschlagzeilen. Und das meistens ohne Folgen, ohne öffentlich wirklich wahrnehmbare Aufarbeitung, ohne Bekenntnisse, Verantwortung zu übernehmen und oft auch ohne, dass es jemanden ausserhalb des Kreises der woken Nestbeschmutzer:innen zu interessieren scheint. Warum ist das so? Ist es Ausdruck eines generellen Kulturproblems? Und wieso wirken die Rügen aus Strassburg weniger wie eine Verurteilung eines Staates, der gegen eine Konvention verstösst, der er sich verpflichtet hat und mehr wie eine Ermahnung in der Primarschule, wobei man Helvetia noch nicht einmal vor die Zimmertür verbannt?
Klar, der EGMR ist keine Instanz mit absoluter juristischer Macht und Differenzen in der Auslegung von Recht sind relativ logisch und erwartbar, aber dennoch verwundert es, dass einer Institution in Strassburg, der von staatlicher Seite immer wieder eine so hohe Wichtigkeit zugeschrieben wird, mit so wenig Achtung begegnet wird, wenn es um eigene Verfehlungen geht. Es ist ja auch nicht so, als würde es immer um dasselbe Thema gehen, wenn die Schweiz wegen EMRK-Verstössen gerügt wird. Alleine 2024 wurde die Schweiz in acht Fällen wegen Verletzungen gegen die EMRK angeklagt. In sieben dieser acht Fälle urteilte das Gericht, die Schweizer Behörden hätten die EMRK, teils in mehreren Punkten, verletzt. Darunter fallen Entscheide, die hierzulande breit in den Medien und in der Politik diskutiert wurden – wie etwa der Fall um die Klimasenior:innen oder zu Racial Profiling bei der Stadtpolizei Zürich – aber auch solche, bei denen das nicht geschehen ist.
Das Kulturproblem wird allerdings bei jenen Fällen, die breit in der Öffentlichkeit diskutiert wurden, eher offensichtlich. Und zudem – wenn auch indirekt – diese Woche im Nationalrat. Nehmen wir als Beispiel die Klimasenior:innen und das Urteil aus Strassburg, das ihnen darin Recht gab, dass die Schweiz gegen das Recht auf einen wirksamen Schutz vor den schwerwiegenden Auswirkungen des Klimawandels auf Leben und Gesundheit sowie auf Zugang zu Gerichten verstösst. Dies, weil die Schweizer Gerichte keine inhaltliche Prüfung der von den Klimaseniorinnen geltend gemachten Verstösse vorgenommen hätten, schreibt humanrights.ch. Was die NZZ am 18. März in einem Nebensatz als «umstrittenes» Urteil abtut, habe zudem im bürgerlichen Lager des Parlaments ein wenig Unbehagen gesät. Denn das Urteil ist letztendlich eine Folge davon, was passieren kann, wenn Verbände und NGOs zivilrechtliche Rechtsmittel ergreifen können. Darum ging es diese Woche auch im Nationalrat. Der Bundesrat hatte einen Gesetzesentwurf für die Stärkung des Verbandsbeschwerderechts vorgelegt, der – analog wie es viele andere Länder in Europa handhaben – auf einen kollektiven Rechtsschutz zielte. Heisst: Eine abgeschwächte, aber dennoch eine Form der Sammelklage ist auf dem Tisch gewesen. Heute ist das nur für ausgewählte Verbände und Non-Profit-Organisationen möglich. Der Nationalrat trat nicht einmal auf die Vorlage ein. Damit bleibt es de facto für Einzelpersonen, die sich zusammenschliessen, um kollektiv erlebte Ungerechtigkeiten anzuklagen, praktisch unmöglich, bedeutende Veränderungen zu bewirken, wenn die Prozesskosten für eine Einzelperson sehr hoch werden können. Was die Bürgerlichen, dank denen die Vorlage nicht einmal diskutiert wurde, zu Steigbügelhaltern für systemische Ungerechtigkeiten macht.
Vielleicht lässt sich das Kulturproblem als «Swiss Exceptionalism», analog zur amerikanischen Staatsideologie bezeichnen. Die Schweiz steht – zumindest in ihrer Selbstdarstellung – schliesslich für Exzellenz, für Effizienz, für eine richtig schöne Fassade. Der EGMR rügte indes die Schweiz, respektive die Stadtpolizei Zürich, für Racial Profiling im Fall Wa Baile. In Reaktion darauf verlangte die AL im Gemeinderat Zürich zum Beispiel Quittungen bei Personenkontrollen (siehe P.S. vom 21.6.24), was (ironischerweise) aus «juristischen Gründen» nicht umsetzbar war. Die Idee wurde von einem SVP-Parlamentarier als Behinderung der Stadtpolizei in ihrer Arbeit bezeichnet. «Swiss Exceptionalism» ist gerade in Bezug auf die Arbeit von Schweizer Behörden ein verbreitetes Argument. Egal wie schlimm eine Schweizer Behörde Dinge verfehlt, hat sie der Situation entsprechend doch fast immer bestmöglich gehandelt. Damit entzieht man sich nicht nur der Verantwortung über Verfehlungen, sondern auch einer glaubhaften Aufarbeitung. Und das nicht von Peanuts, sondern von Verstössen gegen die Menschenrechtskonvention.
Trotzdem käme fast niemand auf die Idee, die Schweiz als Staat zu bezeichnen, dem die Menschenrechte nicht wichtig sind. Wenn die Schweiz (erneut die Zürcher Polizei) von Strassburg gerügt wird, weil sie Demonstrierende mittels Einkreisungstaktik kesselt, sind es dennoch die linken Chaoten, die selbst für ihre Einkesselung verantwortlich sind. Ähnliche Aussagen leistete man sich auch letzte Woche in Reaktion auf die Ausschreitungen rund um die unbewilligte Demonstration am 8. März. Verschiedene Videos zeigen Polizisten, die auf Kopfhöhe mit dem Schlagstock durch das Transparent auf die Menschen dahinter einprügeln, Teilnehmer:innen berichten gegenüber Medien, wie einzelne Polizisten komplett die Beherrschung verloren hätten, und die Stapo kündigt eine «Nachbearbeitung» an wie eigentlich jedes Mal, wenn die Sache dann doch wieder versandet. Und während die SVP in einer Fraktionserklärung wettert, dass die vernünftig denkende bürgerliche Frau sich von diesen Chaoten nicht angesprochen fühlt, setzt FDP-Gemeinderat Andreas Egli in Sachen Geschmackslosigkeit noch einen obendrauf und lässt sich im ‹Tages-Anzeiger› am 10. März wie folgt zitieren: «Wer nicht hören will, muss fühlen.» Einen weiteren Satz zu Steigbügeln verkneife ich mir, aber: Gahts no?