Suchthirni

Vor zwanzig Jahren habe ich das Rauchen aufgegeben. Davor hatte ich schon einmal zehn Jahre lang nicht gepafft. Warum fing ich überhaupt wieder an? Nun – ich fühlte mich zu einem kleinen Exzess berechtigt, hatte ich doch während Schwangerschaft und Stillzeit weder geraucht noch Alkohol getrunken. Das Bravsein hing mir plötzlich zum Hals raus. Ich wollte über die Stränge schlagen, suchte den Anschluss an gleichaltrige Ungebundene und mein früheres, vor-mütterliches Leben als Draufgängerin. Eine Art Midlife-Crisis.

 

Innert nur einer Woche schaffte ich schon wieder zwei Päckchen pro Tag. Da wollte ich auch gleich wieder aufhören. Es dauerte aber ein ganzes, frustrierendes Jahr, bis ich wieder vom Tabak loskam! Und dies, obwohl ich nie unter körperlichen Entzugssymptomen litt: Gingen mir die Glimmstängel aus und war ich morgens zu träge, um aus dem Haus zu gehen, konnte ich auch mal bis am Abend pausieren. Bis heute (!) ist es jedoch so, dass ich einen Stich in der Brust verspüre, wenn ich andere Leute rauchen sehe. Obwohl ich den Qualm überhaupt nicht mehr mag. Mein Hirn jedoch bedauert. Es signalisiert mir, ich käme zu kurz. Ich hätte jetzt auch eine Zigipause und ein kleines Nikotin-Entspannungsflash verdient. (Natürlich bin ich daher für ein Verbot von Tabakwerbung.) 

 

Mit dem Alkohol geht es mir genau gleich. Über ein Jahr lang bin ich nun trocken geblieben, und nicht zum ersten Mal im Leben. Frühere Male ging das ganz leicht; ich war stolz, wenn ich meinen angetüterten Ehegatten nüchtern im Auto heimkutschieren konnte.  Diesmal sollte es jedoch für länger oder besser für immer sein. Und jetzt trauert mein Hirn – dem Glas Weisswein am Feierabend, dem Cüpli am Apéro, dem Rotwein zum Essen nach. Ich bleibe eisern, verzichte auch gerne auf Aufgedunsenheit, Bluthochdruck, Schlafmangel und das Loch im Portmonnee. Aber ich empfinde einen Verlust.

 

Das Essen ist manchmal auch ein Spiessrutenlauf. Alte Verhaltensmuster und mannigfache «Vorbilder» suggerieren mir nach fünf Jahren zuckerfreier Ernährung immer noch, es wäre doch die wahre Freiheit, wenn ich dann und wann in ein Stück Torte beissen oder hemmungslos gedörrte Feigen vertilgen könnte. Manchmal, wenn ich anfällig bin, falle ich darauf rein, und dann plagt mich wieder monatelang die Bulimie, bis ich mir glauben kann, dass ich dieser Substanz hilflos ausgeliefert bin und sie meiden muss. Und zwar ganz! Nun erstaunt es sicher niemanden mehr, dass ich Kaffee als «Einstiegsdroge» empfinde: Er stachtelt mich nicht nur zur Überarbeitung an (Stichwort: Workaholic), sondern hält mich nächtelang wach = Hungerattacke = Fressanfall.

 

Denn: Einmal süchtig – immer süchtig! Das ist die leidige Wahrheit. Eine unbequeme Wahrheit, wie der etablierte Suchtforscher Martin Sieber erfahren musste. Seine Studie, die 2021 ans Licht brachte, dass «kontrolliertes Trinken» nicht funktioniert, wenn jemand wirklich süchtig ist, stiess auf erbitterten Widerstand einiger Suchtfachstellen, deren Credo das «Masshalten» und «vernünftig konsumieren» ist. Einem suchtanfälligen Gehirn hilft jedoch nur die Abstinenz. Der Gelegenheits­konsum hingegen wirkt als «intermittierende Verstärkung» und hält die stetige Hoffnung auf einen nächsten «Hit» und somit die Abhängigkeit lebendig. Die wahre Freiheit der Süchtigen ist die Freiheit, nicht konsumieren zu müssen…

 

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