Streik ist kein Selbstzweck

Bilder von Streiks in diesem Lande waren während Jahrzehnten eine Seltenheit. Dies hat sich verändert. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer streiken wieder vermehrt für ihre Anliegen, auch wenn ein Erfolg von Beginn weg nicht garantiert ist. Das vorliegende Buch zeigt, gestreikt wird weniger um mehr Lohn, sondern vor allem um soziale Sicherheit, Gesundheit und die eigene Würde.

 

 

Herman Koch

 

 

Die Generation der Babyboomer wuchs mit der Hochkonjunktur auf. Streik war damals hierzulande ein Fremdwort. Mit Glück erfuhr sie in der Schule, dass es mal in der Schweiz 1918 einen Generalstreik gab. Streiks gab es nur in den umliegenden Ländern. In der Schweiz wurden Streitigkeiten zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern in Verhandlungen beigelegt. Die meisten Gesamtarbeitsverträge waren mit einer vertraglichen «Friedenspflicht» versehen. Wenn es mal zu einer Arbeitsniederlegung kam, waren es meist spontane Reaktionen der Belegschaft, sogenannte wilde Streiks. Erst Mitte der Siebzigerjahre im letzten Jahrhundert, die Hochkonjunktur in der Schweiz neigte sich dem Ende zu, kam es zu vereinzelten Streiks in verschiedenen Firmen. So findet sich in den «Zeittabellen von 1800-1978», herausgegeben vom SGB, der Streik bei Burger & Jacobi in Biel 1974. Da entstand der Film «Ein Streik ist keine Sonntagsschule». Spontanstreiks fanden 1976 bei Dubied in Couvet, Matisa SA in Crissier oder bei Bulova in Neuenburg statt. Später folgte der Journalistenstreik bei der Zeitung ‹Tat›. Vielfach begnügten sich einzelne Gewerkschaften bei Stellenabbau, Betriebsverlagerungen usw. mit der Aussage, «wir protestieren heftig». Das wars dann jeweils auch. Erst mit dem Zusammenschluss einzelner Gewerkschaften zur Unia und der veränderten wirtschaftlichen Lage kam es wieder vermehrt zu Kampfmassnahmen auf der Strasse und in den Betrieben.

 

Mehr als 100 Streiks seit dem Jahr 2000

Rechtzeitig zum Jubiläum «100 Jahre Generalstreik» ist nun ein Buch mit einem umfassenden Überblick über die Streiks in den Jahren 2000 bis 2016 erschienen. Der Grund für diese Zeitspanne liegt auch darin, dass mit dem Inkrafttreten der neuen Bundesverfassung per 1.1.2000 erstmals das Streikrecht im Artikel 28 festgeschrieben ist. Tabellarisch aufgelistet sind in dieser Zeitperiode mehr als 110 Streiks. Die meisten dauerten nur einen bis zwei Tage. Ein paar wenige bis zu sieben Tagen. Dreizehn dieser Streiks werden von verschiedenen Autorinnen und Autoren im Detail beschrieben. In den Medien fanden die landesweiten Streiks und Kundgebungen der Bauarbeiter oder der Streik bei den «Officine», der SBB-Werkstätte in Bellinzona, grossen Widerhall. An solchen Streiks beteiligten sich viele Personen, denn sie betrafen entweder eine ganze Branche im Land oder eine ganze Sprachregion.

 

Weniger im Blickfeld sind Streiks von Verkäuferinnen einer kleinen Lebensmittelfiliale oder Pflegerinnen eines kleinen Betriebes. Hier streiken wenig Arbeitnehmende. Das Interesse der Medien ist deshalb beschränkt. Aber deren Streikerfolg kann Auswirkungen auf eine gesamte Firma oder die gesamte Branche im Land haben. Solche Streiks machen auf Missstände aufmerksam, die in der öffentlichen Wahrnehmung meist untergehen. Im vorliegenden Buch, das Aktionen aus der ganzen Schweiz enthält, werden die beschriebenen Streiks im Umfang gleichberechtigt behandelt. Sie sind systematisch aufgebaut, geben die Ausgangslagen und die wichtigsten Forderungen wieder und lassen vor allem die Streikenden sowie die Streikleitung zu Worte kommen.

 

Es geht um Würde!

Was bei den beschriebenen Streiks auffällt: Es braucht viel Frust, bis Leute sich zum Streik entschliessen. Vor- und mögliche Nachteile werden abgewogen. Und ohne Solidarität der Streikenden untereinander, aber auch aus dem persönlichen Umfeld, die Unterstützung einer Gewerkschaft, der Medien ist ein Streik kaum erfolgreich zu führen. Klar wird: Jeder Streik ist wieder anders. Es ist ein dauernder Lernprozess für alle Beteiligten. Gewerkschaften können nicht einfach eine Checkliste der letzten Aktionen hervorziehen. Streik ist eben «keine Sonntagsschule». Und wenn am Streikende das Ziel nicht oder nicht voll erreicht ist, so sagt es ein Beteiligter: «Der Kampf war eine einmalige Erfahrung. Und er beweist einmal mehr, dass nur wer kämpft, auch gewinnen kann». Und ein anderer sagt: «Es geht doch auch um meine Würde».

 

Das bebilderte Buch widmet sich in einem Gespräch mit Vania Alleva und Paul Rechsteiner der «Renaissance des Streiks» und dem damit verbundenen Lernprozess für die Gewerkschaftsorganisationen. Paul Rechsteiner, Präsident des Gewerkschaftsbundes SGB, erläutert in einem Beitrag die Wichtigkeit des Streikrechts in der Bundesverfassung. Im Weiteren enthält das Buch einen Überblick über «die Vielfalt der Streiks in Europa», diverse Statistiken zu den Streiks in der Schweiz und viele weitere Detailinformationen. Ein Buch, das jede und jeder Lohnabhängige lesen sollte.

 

Vania Alleva/Andreas Rieger (Hg.): Streik im 21. Jahrhundert. Rotpunktverlag 2017, 166 Seiten, 25 Franken.

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