Strafanzeige im Fall Brian

Wenn es nach den Verteidigern von Brian geht, ermittelt die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich bald gegen den Zürcher Justizvollzug. Sie haben nämlich Strafanzeige eingereicht, wie sie am Montag an einer Pressekonferenz bekannt gaben. 

 

Was hier gerade geschehe, sei eigentlich ein Paradox, sagte Rechtsanwalt Philip Stolkin zu Beginn der Pressekonferenz am Montag im Restaurant Certo. «Die Verteidigung klagt an.» Hintergrund der Pressekonferenz ist eine Strafanzeige, die das Verteidigerteam von Brian am 24. Dezember 2021 im Auftrag seines Klienten eingereicht hat. Geprüft werden müssten unter anderem die Strafbestände Freiheitsberaubung, Amtsmissbrauch, Nötigung und (versuchte) schwere Körperverletzung. Notwendig sei die Strafanzeige, weil die Behörden trotz mehrerer Ärzteberichte, die einen Folterverwurf plausibel gemacht hätten, untätig geblieben seien, erklärte Rechtsanwalt Thomas Häusermann. 

 

Verdächtigt sind, so ist der Zusammenfassung der Strafanzeige zu entnehmen, «im weitesten Sinne alle jene Personen, die dieses Regime geschaffen, bewilligt, die Finanzierung ermöglicht haben, all diejenigen, die konkret für den Vollzug verantwortlich sind». Sicherlich seien dies die Chefs des Strafvollzuges, beginnend bei der Justizdirektion, beim Generalsekretariat, der Verwaltung und Leitung der JVA Pöschwies, die vor Ort involvierten Beamten, Angestellten und Betreuer, die involvierten Ärzte und Psychiater, die die Anwendung einer solchen Isolationshaft befürwortet und den Vollzug begleitet hätten. 

 

Die Strafanzeige liegt nun bei der Ermächtigungsbehörde des Kantons, dem Obergericht. Sie entscheidet, ob die Staatsanwaltschaft gegen Amtspersonen ermitteln darf. 

 

Auf die Frage von JournalistInnen, ob auch die Politik, namentlich Justizdirektorin Jaqueline Fehr (SP), Teil der Untersuchung ist, antwortete Rechtsanwalt Bernard Rambert: «Natürlich geht es bis zur Politik.» Bei einer Strafanzeige gegen ein Regierungsmitglied müsste der Kantonsrat zuerst dessen Immunität aufheben. 

 

Eine medizinische Versorgung ohne Kopf

Neben den Details der Strafanzeige waren vor allem die gesundheitlichen Folgen der dreieinhalb Jahre dauernden Isolationshaft des heute 26jährigen Brian ein Thema. Der Allgemeinmediziner André Seidenberg hat vergangenen Dezember im Auftrag der Verteidigung auf Grundlage der handschriftlichen Krankenakte ein Gutachten zur Frage der medizinischen Versorgung von Brian erstellt – und erhebt schwere Vorwürfe. Er sei entsetzt darüber, dass der ärztliche Dienst in der JVA Pöschwies die Gesundheitsversorgung von Brian nicht gewährleisten konnte. «Nicht einmal seine Grösse und sein Gewicht waren dem ärztlichen Dienst bekannt.» Brian sei, wenn eigentlich eine persönliche Untersuchung notwendig gewesen wäre, durch verschlossene Zellentüren untersucht worden. «Was ist eine medizinische Versorgung ohne Kopf, Nacken, Wirbelsäule und Knie?», fragte der Mediziner rhetorisch. 

 

Heute leide der erst 26jährige Brian unter sehr hohem Blutdruck, der einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall zur Folge haben könnte. «Im Klartext bedeutet das: Entweder ist der lebensgefährlich erhöhte Blutdruck ein Verbrechen durch die Justizdirektion, oder das nicht Untersuchen von anderen Ursachen durch den ärztlichen Dienst ist verbrecherisch.»

 

Aus all diesen Gründen ist Seidenberg im Oktober 2021 auf den kantonsärztlichen Dienst zugegangen. Auf Anfrage beim Kantonsärztlichen Dienst (KAD) bestätigt Kantonsärztin Christiane Meier, dass man der Eingabe von Seidenberg nachgegangen sei. «Dabei wurden keine strukturellen Fehler festgestellt, die aufsichtsrechtliche Interventionen erforderlich gemacht hätten.» Dass es strukturelle Fehler bei der Gesundheitsversorgung in der JVA Pöschwies gebe, sei allerdings auch gar nicht der Vorwurf in der Eingabe gewesen, André Seidenberg auf Nachfrage klar. «Herr Seidenberg hat die schlechte medizinische Behandlung von Brian in der JVA Pöschwies kritisiert und die Untersuchungen zu diesen Vorwürfen laufen unseres Wissens noch.»

 

165 Stunden in der Woche allein

Die Haftbedingungen, unter denen Brian in den dreieinhalb Jahren in der JVA Pöschwies leben musste, seien unrechtmässig und eine Form von Folter, erklärte Rechtsanwalt Rambert. «Wir gebrauchen daher den Begriff Isolationshaft und Isolationsfolter.» Brian sei, so rechnete er vor, nach Abzug von Besuchen, die hinter einer Panzerglasscheibe stattfinden mussten, und den Telefongesprächen – rund eine Stunde pro Woche – ganze 165 Stunden in der Woche alleine und ohne soziale Kontakte gewesen. Eine Woche hat 168 Stunden.

 

Inzwischen befindet er sich seit Ende Januar 2022 mit rund 20 anderen Mitinsassen auf einer Abteilung eines Zürcher Untersuchungsgefängnisses. Dort könne er sich sieben Stunden am Tag frei bewegen und mit seinen Mitinsassen kommunizieren. 

 

Zu den Vorwürfen, die die Strafverteidiger in der Strafanzeige erheben, nahm das Amt für Justizvollzug und Wiedereingliederung am Dienstag gegenüber der NZZ Stellung. Man nehme die Vorwürfe zur Kenntnis. Gleichzeitig verweist das Amt auf den Bericht der Anti-Folter-Kommission, dessen Empfehlungen inzwischen umgesetzt seien.

 

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