Stilblüten

In «Songs of the Silent Snow» beschreibt Hubert Selby die Entspannung, die seinen Protagonisten überkommt, sobald er feierabends im Bus die vermischten Meldungen über all die Verbrechen und Katastrophen liest, die sich am Tage ereignet hatten, während er im Büro sass. Ganz ähnlich ergeht es mir mit den Stilblüten, die im Blätterwald munter gedeihen, seit Medien zu Renditeobjekten degradiert wurden und in den Redaktionen das grosse Korrektorats-Sterben (oder wohl eher -Abmurksen) um sich greift. Mit wohligem Schauer, gelinde amüsiert oder bisweilen auch laut herauslachend genehmige ich mir Tippfehler, über Kreuz zusammengeschusterte Sprichwörter und unfreiwillig komische Sprachbilder.

 

Eine unerschöpfliche Quelle stilistischer Unausgegorenheiten ist unser aller tägliches Gratisblatt. Mir ist es ja leider nicht gelungen, TA-Media-Erzeugnisse vollumfänglich zu boykottieren. Das wollte ich eigentlich tun, seit der Verlagskonzern sein Schlachtross namens Michèle Binswanger, mit gerichtlichem Segen, erneut Dreck gegen Johanna-Spiess-Hegglin schleudern lässt. Nur vergesse ich immer meine Lektüre zu Hause, so dass ich auf jeder Fahrt im ÖV dann doch wieder zur Schundzeitung greife. Einmal dachte ich schon, nun stehe etwas wirklich Interessantes drin. Denn ein ungewöhnliches Wort heischte Aufmerksamkeit: ein Totem – also ein heiliges Stammes-Zeichen oder -Symbol. Vor meinem geistigen Auge tauchten Inhalte aus  Ethnologie, Religion, Kulturgeschichte oder Psychoanalyse mit intellektuellem Einschlag auf. Was für eine tagesaktuelle Geschichte mochte sich um ein Totem entsponnen haben? «Auto mit Totem aus Fluss gezogen».

 

Das musste schon ein kräftiger Pfahl gewesen sein. Aber warum würde man einen wertvollen Kultgegenstand für eine derart profane Tätigkeit entweihen? Wäre dazu nicht eine Seilwinde besser geeignet? Na klar. Die Nachricht handelte von einem Fahrzeug, dessen Lenker bei der Bergung tot hinter dem Steuer sass. Schrecklich flapsig und ungalant ausgedrückt. Warum nicht: «Auto geborgen – Fahrer tot»?

 

Beim Mitlesen in meines Gegenübers Zeitung erhaschte ich während einer Zugfahrt eine Schlagzeile zu einem Hotelbrand. «Ui», durchfuhr es mich, «hoffentlich ist niemand verbrannt oder an Rauchvergiftung gestorben!», — denn Schadenfreude über Unglücke ist meine Sache nicht. Als mein Mitreisender ausgestiegen war, schnappte ich mir das Blatt. Da stand: «Junger Schweizer Hotelbrand …» – hä? Wie kann ein Brand jung sein oder einer Nation angehören? «… sorgt für Aktivferien in beliebten Bergdestinationen». Ach so: Es handelt sich um Werbefuzzi-Denglisch erster Güte! Das sorgt für schräge Assoziationen, bei mir etwa: Da das Mountainbiken auf Bergwanderwegen (im Inserat fotografisch illustriert) nicht alle hinter dem Ofen hervorlockt, werden in den hipsten Bergdestinationen nun die Hotels in Brand gesteckt, um die Stubenhocker und Trantüten, die sich darin verkrochen haben, in die Gänge zu bringen. Sie haben schliesslich Aktiv- und nicht Passivferien gebucht (?).

 

Etwas ratlos hat mich jene Meldung gemacht, wonach es an einer Tankstelle zu einem Streit mit einem Toten und sechs Verletzten gekommen sei. Unser zeitgeistiger Aktivismus greift offenbar bereits ins Jenseits über! Nicht beantwortet wurde in der Nachricht die Frage: Wenn Tote und Verletzte aufeinander losgehen – gibts dann Lebendige und Unversehrte? Dann wäre ja alles nur halb so wild…

 

 

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