Stealthing: Warum Männer das Kondom heimlich abziehen

von Marie-Joelle Eschmann

 

Es gibt Fälle, in denen Männer heimlich das Kondom abziehen. Dieses Phänomen nennt sich «Stealthing» und kann in der Schweiz strafrechtlich (noch) nicht erfasst werden. Es zeigt, dass die Gesellschaft ein enges Bild davon hat, was als sexuelle Gewalt gilt. Doch was genau steckt hinter solchem Verhalten?

 

Vanessa* war Anfang dreissig, als ihre langjährige Beziehung zu Bruch ging. «Ich war zum ersten Mal seit Langem wieder Single», erzählt die Inhaberin einer Zürcher Kommunikationsagentur. Sie entschied sich dazu, das Beste aus ihrer neuen Lebenssituation zu machen und meldete sich auf einer Online-Plattform an. Dort hat sie einen Mann kennengelernt, den sie sofort interessant fand. «Er war ungefähr in meinem Alter und machte wie ich viel Sport», sagt sie. Nach einem längeren Chat-Austausch haben sie abgemacht, dass er sich das nächste Mal, wenn er in Zürich ist, bei ihr melden wird.

Während ihres ersten Dates wollte der Mann Vanessa dazu überreden, ohne Kondom miteinander zu schlafen. «Er sagte, dass man mit Gummi nichts fühle. Ausserdem gab er an, dass er erst neulich einen Test gemacht und keine Krankheiten habe.» Vanessa war verblüfft. «Ich fragte ihn, woher er wissen wolle, dass ich keine Krankheiten habe. Da meinte er völlig selbstverständlich, dass ich sicher gesund sei, da ich offensichtlich immer auf Kondome bestehe.» Eine haarsträubende Argumentation, wie sie fand. Sie liess nicht locker. «Ich habe ihm klar gemacht, dass ich ohne Kondom nicht mit ihm schlafen werde.» Dann zog er es widerwillig an. «Er war hinter mir. Ich konnte nicht sehen, was er genau machte.» Als sie fertig waren, bemerkte Vanessa jedoch, dass er das Kondom nicht mehr trug. Sie erschrak und wies ihn sofort darauf hin. «Er meinte, er habe doch vorhin erwähnt, dass er Kondome nicht mag.» In dem Moment stieg in Vanessa die Panik auf. Sie stellte ihn sofort zur Rede. «Er sagte bloss, ich solle mich nicht so anstellen.»

 

Einige Zeit später sprach sie im Chat den Mann nochmals auf den Vorfall an. «Ich konnte es nicht auf mir sitzen lassen. Ich war wütend, dass mich das Ganze so viel Zeit, Energie und Geld gekostet hatte. Der Besuch beim Gynäkologen, die ganzen Tests, die Sorgen. All das.» Der Mann bezeichnete Vanessa daraufhin unter anderem als Kontrollfreak und blockierte sie. Vanessa fühlte sich ohnmächtig. «Ich blieb mit dem Gefühl zurück, in meiner körperlichen Autonomie angegriffen worden zu sein. Aber es fiel mir schwer, die Erfahrung zu beschreiben und in Worte zu fassen.» Gleichzeitig gab sie sich insgeheim selbst die Schuld. «Obwohl man als Frau immer wieder davor gewarnt wird, einen Mann zu sich nach Hause einzuladen, den man noch nicht richtig kennt, bin ich der Meinung, dass man davor keine Angst haben sollte», sagt Vanessa. Für sie sei klar, dass sie darauf vertrauen können sollte, dass Regeln respektiert werden. «Trotzdem bin ich mir nach dem Vorfall naiv vorgekommen.»

 

Moralisch verwerflich – strafrechtlich nicht erfasst

 

Was Vanessa an dem Abend zugestossen ist, nennt sich «Stealthing»: Ein Phänomen, das spätestens seit November 2019 auch in der Deutschschweiz als das heimliche Abziehen eines Kondoms beim Geschlechtsverkehr bekannt ist. Das Wort leitet sich aus dem englischen «stealth» ab und bedeutet so viel wie List. 

Das Zürcher Obergericht hat im Herbst letzten Jahres einen 21-jährigen Studenten widerwillig freigesprochen, der während des Geschlechtsverkehrs das Kondom heimlich abgezogen hatte. Der Grund für den Freispruch war nicht etwa die fehlende Glaubhaftigkeit der Aussagen des Opfers, sondern die lückenhafte Gesetzesgrundlage in der Schweiz. Entscheidend für den Freispruch war nämlich vor allem der Artikel 1 des Schweizer Strafgesetzbuches, der besagt, dass eine Strafe nur wegen einer Tat verhängt werden darf, die das Gesetz ausdrücklich unter Strafe stellt. Die Tat sei aber «moralisch verwerflich», sagte der Richter.

 

«Aus sexologischer Sicht ist Stealthing eine Gewalttat», sagt Martin Bachmann, der seit fast 20 Jahren als Männerberater beim Mannebüro in Zürich arbeitet. Der klinische Sexologe betreut unter anderem Männer, die Stealthing begangen haben. Für ihn ist wichtig, dass die Gesellschaft mit Stealthing konfrontiert wird. «Wir haben ein enges Bild davon, was als sexuelle Gewalt gilt. Das spiegelt sich auch in unserem Strafgesetzbuch wider. Umso mehr darüber gesprochen wird, desto grösser wird das Bewusstsein dafür, dass es viele sexuelle Grenzverletzungen gibt, die juristisch nicht erfasst sind.» 

Dass in der Öffentlichkeit über Stealthing gesprochen wird, hilft Opfern wie Vanessa, um ihre Erfahrungen besser einzuordnen. «Ich weiss nicht, ob ich das Wort Stealthing damals schon kannte», sagt Vanessa, «aber heute weiss ich, dass ich alles andere als selbst schuld bin. Ich hätte Sex ohne Kondom niemals zugestimmt». Für Vanessa bleibt einzig die Frage, warum sich der Mann nicht an die Regeln gehalten hat.

 

Warum tut das ein Mann?

 

Auch Chantal*, die heute zweifache Mutter und Leiterin einer namhaften Kulturinstitution in Zürich ist, fragt sich das immer wieder. «Ein Arbeitskollege ist während eines Quickies ohne Kondom in mich eingedrungen», erzählt sie. Als Zwölfjährige hatte sie erlebt, wie jemand in ihrem Bekanntenkreis an Aids gestorben war. «Das hat mich stark geprägt», sagt sie, «ich wusste über sexuell übertragbare Krankheiten früh Bescheid». Als Chantal 23 Jahre alt war, arbeitete sie während der Semesterferien als Serviceangestellte in einem trendigen Restaurant im Zürcher Kreis 4. «Das ganze Team ist nach Feierabend tanzen gegangen. Ich habe mich dann mit dem Sous-Chef weggeschlichen. Er war sehr charmant.» Chantal bestand von Anfang an auf ein Kondom, schickte den Arbeitskollegen sogar in die Apotheke. «Normalerweise hatte ich immer eins dabei. Aber an dem Abend war ich überhaupt nicht darauf vorbereitet.» Er kam mit dem Kondom zurück und drehte sich kurz von ihr weg, um es anzuziehen. «Ich kann mich noch genau erinnern, wie er meine Hand weggenommen hat, als ich ihn berühren wollte. Heute weiss ich, warum. Er hatte das Kondom gar nie angezogen.» Sie merkte es erst, als es bereits vorbei war. «Ich bin danach mit dem Fahrrad nach Hause und habe gespürt, wie ungewöhnlich viel Flüssigkeit aus mir herausfloss.» Im Bett dachte sie lange darüber nach.

 

Am nächsten Morgen hatte Chantal wieder Schicht. Sie wollte all ihre Zweifel aus dem Weg räumen. In der Küche sprach sie den Sous-Chef auf das Kondom an. Er versicherte ihr, dass er eines benutzt hatte. Chantal zog daraufhin alle Register: «Du weisst aber, dass ich nicht mit der Pille verhüte?», fragte sie ihn. Daraufhin riss er die Augen weit auf. Chantal wusste, dass sie ihn ertappt hatte. «Ich fragte ihn, ob ich in die Apotheke gehen sollte, um die Anti-Baby-Pille zu schlucken. Er nickte und meinte, dass das wahrscheinlich eine gute Idee wäre.» Chantal verfiel danach in eine Schockstarre. «Ich habe die Gefahr vor sexuell übertragbaren Krankheiten immer sehr ernst genommen.» Für sie war es unfassbar, dass sich jemand über ihre Bedürfnisse hinwegsetzen würde. «Warum hat mein Arbeitskollege damals gelogen und sich sogar die Mühe gegeben, so zu tun, als ob er ein Kondom an- und ausziehen würde?»

 

Ein problematisches Männlichkeitskonzept

 

Corina Elmer ist Geschäftsführerin der Frauenberatung sexuelle Gewalt, einer vom Kanton Zürich anerkannten Opferhilfestelle. Sie beschäftigt sich seit Langem mit den möglichen Gründen, die hinter grenzverletzendem Verhalten wie Stealthing stecken. Sie stellt fest, dass es Männer gibt, die ein Kondom vorsätzlich abstreifen, weil sie dies als Teil ihrer männlichen Überlegenheit erleben. «Der Nährboden dafür ist ein Männlichkeitskonzept, bei dem sich der tätige, handelnde Mann nimmt, was er begehrt, braucht oder wünscht. Notfalls eben auch gegen den Willen seiner Sexualpartnerin», sagt sie.

Auch Martin Bachmann stellt fest, dass hinter sexuellen Gewalthandlungen wie Stealthing oft ein stereotypes Männerbild steckt. «Dominanz ist hierbei ein wichtiges Stichwort. Wenn ein Mann nicht dominant ist, zeigt er Schwäche. Das traditionelle Männlichkeitskonzept sieht jedoch keine Schwäche, keine Unsicherheiten vor.» Problematisch ist für Bachmann stereotype Männlichkeit vor allem, weil sie meint, sich um jeden Preis und auf Kosten anderer durchsetzen zu müssen. 

Rollenbilder, bei denen der Mann einer Frau in allem überlegen sei, begünstigten solch übergriffiges Verhalten. «Es gibt viele Studien, die zeigen: Je traditioneller das Männer- und Frauenbild einer Einzelperson oder auch von Gruppierungen ist, umso grösser ist das Risiko für die Ausübung geschlechtsspezifischer Gewalt», sagt Elmer.

 

Kondome als Störfaktoren

 

Ein grosses Thema bei Stealthing ist ausserdem das eingeschränkte Lustempfinden, das Männer wegen des Tragens von Kondomen beklagen. In Online-Foren heisst es dazu beispielsweise «Man spürt überhaupt nichts mehr beim schnellen Ficken (sehr sinnig wenn Frauen dann ‹fick mich richtig durch› schreien in der Hoffnung man kommt!!!)».

Auch in Bachmanns Therapien wird über Lustempfinden geklagt. «Es gibt viele Fälle, in denen Kondome als Störfaktor empfunden werden.» Für den Sexologen ist jedoch klar, dass das Lustempfinden nicht nur von einem Kondom abhängen kann. «Ein Kondom kann das Gefühlsempfinden leicht verändern. Aber komplett einschränkend sollte es nicht sein, denn die Quellen der Erregung sind vielfältig.» Wenn bei jemandem ein Kondom zu einer Dysfunktion führe, dann liege das mit grösster Wahrscheinlichkeit an einem eingeschränkten Bild, das man von Sexualität hat. Die Erregungssteigerung sei zu labil und unsicher. «Wenn ich wegen eines Kondoms keine Lust empfinden kann, dann sollte ich mir professionelle Unterstützung holen.» Das wiederum hiesse aber, dass man sich Schwäche eingestehen muss.

«Es gibt nicht wenige Männer, die ihre Lust und ihr Begehren über den Wert eines respektvollen Miteinanders stellen», sagt Corina Elmer. Statt sich damit auseinanderzusetzen, würden sie ihr Tun mit weit verbreiteten, stereotypen Vorstellungen über die Triebhaftigkeit und den unmittelbaren Befriedigungsdrang der männlichen Sexualität rechtfertigen. «Männer, die Stealthing begehen, lehnen es ab, Verantwortung zu übernehmen.»

 

Hoffnung: Reform des Schweizer Sexualstrafrechts

 

In der Schweiz wird eine Reform des Sexualstrafrechts momentan im Parlament diskutiert. «Die aktuelle Gesetzgebung verstösst gegen die menschenrechtlichen Verpflichtungen und muss dringend revidiert werden», sagt Cyrielle Huguenot, Frauenrechtsverantwortliche bei Amnesty Schweiz. Sie verweist auf die Istanbul-Konvention, eine europäische Übereinkunft, die verlangt, dass nicht einvernehmlicher Geschlechtsverkehr und andere sexuelle Handlungen angemessen bestraft werden. Die Konvention ist im April 2018 in der Schweiz in Kraft getreten.

In anderen, europäischen Ländern ist es bereits zu entsprechenden Revisionen gekommen. In Deutschland beispielsweise wurde 2016 der «Nein-heisst-Nein»-Grundsatz eingeführt. Bei einer solchen Regelung genügt ein «Nein», um massive Eingriffe in die sexuelle Selbstbestimmung entsprechend zu bestrafen. In der Schweiz ist das momentan nicht der Fall. Hier gilt eine sexuelle Handlung gegen den Willen der betroffenen Person nur dann als schweres Unrecht, wenn das Opfer zum Beispiel durch Gewalt oder Drohung dazu genötigt wurde.

 

«Wir setzen uns für die Einführung einer «Ja-heisst-Ja-Regel» ein, welche die sexuelle Selbstbestimmung am besten schützt», betont Huguenot. In Schweden ist eine solche Regel in Kraft getreten und gilt als prominentes Beispiel. «Bei einer Nein-heisst-Nein-Regel kommt es auf die Auslegung durch die Gerichte an, ob ein Delikt wie Stealthing als sexueller Übergriff erfasst wird. Klarer wäre es mit einer Ja-heisst-Ja-Regel», bestätigt die Strafrechtlerin Nora Scheidegger.

Die Verwaltung wurde von der ständerätlichen Kommission damit beauftragt, bis im Sommer 2020 einen überarbeiteten Gesetzestext für die Revision des Sexualstrafrechts vorzulegen, der insbesondere die Frage berücksichtigt, wie sexuelle Handlungen gegen den Willen einer Person strafrechtlich behandelt werden sollen, wenn weder Gewalt noch Drohung vorliegen. «Es gibt Hoffnung auf eine Schweiz, in der Frauen und Männer vor allen Formen von Gewalt geschützt sind», sagt Huguenot.

 

*Namen geändert

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