Thomas Hugs Alternativen zum Autobahnausbau: Velos und öV fördern, kluge Raumplanung. (Bild: GLP ZH)

«Stau gehört zum Autofahren einfach dazu»

Verkehrsplaner Thomas Hug lehnt den geplanten Ausbau der Nationalstrassen ab, über den am 24. November 2024 abgestimmt wird. Im Gespräch mit Tim Haag erklärt er, warum die Abstimmung eine Chance für nachhaltige Mobilitätskonzepte bietet.

Das Schweizer Autobahnnetz wurde in den 1960er- und 1970er-Jahren für eine Bevölkerung von sechs Millionen Menschen konzipiert. Angesichts des erwarteten Wachstums auf zehn Millionen Einwohner und des steigenden Mobilitätsbedarfs: Ist ein Ausbau der bestehenden Infrastruktur nicht unausweichlich?

Thomas Hug: Diese Sichtweise übersieht, dass das Autobahnnetz seit den 1970er-Jahren kontinuierlich erweitert wurde. Beispiele sind die Jura-Autobahn, die 2015 fertiggestellt wurde, der Ausbau des Baregg-Tunnels Anfang der 2000er-Jahre und jüngst der Ausbau des Gubrist-Tunnels. Es ist also nichts Neues, dass am Autobahnnetz ständig gearbeitet und es erweitert wird. Neu ist lediglich, dass wir jetzt darüber abstimmen.

Dennoch haben sich die Staustunden seit 2015 in der Schweiz mehr als verdoppelt. Befürworter:innen der Vorlage warnen vor einem Kollaps des Nationalstrassensystems, wenn nichts unternommen wird. Wie sehen Sie das?

Ohne Ausbau kommt es nicht zum Chaos. Wir nähern uns einem Gleichgewicht, in dem der Autoverkehr ab einem gewissen Punkt nicht weiter zunimmt, weil er gesättigt ist. Das konnte man beim Gubrist beobachten, wo der Stau über Jahre hinweg relativ konstant blieb. Menschen passen ihr Verhalten an, wenn der Autoverkehr unattraktiver wird. Sie nutzen andere Verkehrsmittel oder ziehen näher an ihren Arbeitsplatz und der Modalsplit – also die Verteilung des Verkehrs auf verschiedene Verkehrsmittel – verschiebt sich zugunsten nachhaltigerer Mobilität. Es ist eine Illusion zu glauben, dass der Autoverkehr immer weiterwachsen muss. Zu den Staustunden: Staus sind volkswirtschaftlich ineffizient und für viele Menschen ärgerlich. Allerdings hat die Zunahme mehrere Ursachen. Zum einen wird heute detaillierter und mit einem dichteren Messnetz gemessen, wodurch mehr Staus erfasst werden. Zum anderen wurde das Nationalstrassennetz erweitert, sodass mehr Strassen in die Statistik einfliessen. Natürlich sind auch mehr Menschen mit dem Auto unterwegs. Das Kernproblem ist aber, dass viele weiterhin das Auto nutzen, obwohl Alternativen verfügbar wären. Es sind nicht die Strassen zu klein, sondern es sind zu viele Autos unterwegs, oft von Personen, die auch andere Verkehrsmittel nutzen könnten, wenn entsprechende Angebote vorhanden wären.

Gehört der Stau einfach zum Autofahren dazu?

Eine völlig staulose Welt im Autoverkehr ist unrealistisch. Je mehr Menschen Auto fahren, desto langsamer wird der Verkehr – das ist eine inhärente Eigenschaft des Autoverkehrs. Beim öffentlichen Verkehr ist das anders, ein Zug wird nicht langsamer, je mehr Leute einsteigen. Stau fungiert gewissermassen als natürliches Regulativ oder als Form des «Mobility Pricing», bei dem alle mit ihrer Zeit bezahlen. Die beste Massnahme gegen Staus ist, Alternativen zum Auto zu nutzen. Man sollte sich bewusst sein, dass man als Autofahrer:in selbst Teil des Staus ist und nicht einfach von den anderen aufgehalten wird.

Ein Ausbau der Autobahnen würde den Verkehr von den Dörfern zurück auf die Autobahnen verlagern und so Wohngebiete entlasten, heisst es. Als Grünliberaler müsste Sie das doch überzeugen.

Kurzfristig kann ein Ausbau den Verkehr von den Dörfern zurück auf die Autobahn verlagern, was zu einer temporären Entlastung führt. Man hat dann vielleicht drei bis vier Jahre Ruhe. Aber sobald die Autobahn wieder verstopft ist, verlagert sich der Verkehr erneut in die Dörfer, und wir stehen vor dem gleichen Problem wie zuvor. Das passiert jeweils innerhalb von fünf bis zehn Jahren nach dem Ausbau. Zudem fehlen häufig flankierende Massnahmen in den Dörfern, um den Durchgangsverkehr dauerhaft zu reduzieren. Wenn ein Ausbau jedoch mit echten Verbesserungen für Städte oder Dörfer einhergeht, wie etwa der Rückbau von Strassen oder die Umwandlung von Autobahnen in Stadtstrassen, wäre das eine andere Diskussion. Ein Beispiel ist Winterthur, wo ein Tunnelprojekt die städtebauliche Entwicklung fördern könnte, indem die oberirdischen Flächen neu genutzt werden können. Bei den sechs Projekten, über die wir abstimmen, ist das jedoch nicht der Fall.

Einige geplante Projekte beinhalten Tunnelbauten, die von Befürworter:innen als platz-, landschafts- und umweltschonend angepriesen werden.

Tunnel sind deutlich teurer und verursachen beim Bau erheblich mehr CO₂-Emissionen. Sie sind daher im Kontext des Klimawandels selten die beste Lösung. Ein Tunnel benötigt mehr Material und Energie im Bau und Unterhalt. Wenn ein Tunnel dazu dient, eine bestehende Autobahn aus einem Stadtgebiet zu entfernen und so die Lebensqualität zu erhöhen, kann er sinnvoll sein. Der Üetlibergtunnel in Zürich ist ein Beispiel dafür, er hat Möglichkeiten geschaffen, Verkehrswege aus Wohnquartieren zu verlagern und diese lebenswerter zu gestalten. Allerdings bleiben bei den aktuellen Projekten, wie dem Rheintunnel in Basel, die bestehenden Strassen bestehen, und der neue Tunnel verläuft parallel dazu. In Schaffhausen plant man ebenfalls einen zusätzlichen Tunnel, was laut Studien zu einem Anstieg des Verkehrs in der Stadt um 25 Prozent führen könnte. Die Städte profitieren von diesen Ausbauten kaum.

Sie haben erwähnt, dass viele Menschen das Auto nutzen, obwohl Alternativen verfügbar wären. Wie können wir den Modalsplit zugunsten nachhaltiger Verkehrsmittel beeinflussen?

Der Modalsplit ist entscheidend für eine nachhaltige Mobilität. Um mehr Menschen vom Auto auf den öffentlichen Verkehr oder das Fahrrad zu bringen, müssen wir attraktive Alternativen schaffen. Das bedeutet, dass wir in den Ausbau und die Verbesserung des öffentlichen Verkehrs investieren sollten, insbesondere in Gebieten, wo das Auto bisher klare Vorteile hat. Oft sind es Tangentialstrecken, die öffentlich schlecht erschlossen sind. Ein Beispiel ist die Verbindung zwischen Uster und Winterthur – zwei grossen Städten im Kanton Zürich ohne effiziente, direkte ÖV-Verbindung. Wenn wir solche Lücken schliessen, können wir den Modalsplit positiv beeinflussen.

Ist es realistisch, einen signifikanten Anteil des Verkehrs vom Auto auf den öffentlichen Verkehr zu verlagern, ohne enorme Investitionen zu tätigen?

Grosse Sprünge im öffentlichen Verkehr sind sehr kostenintensiv, das stimmt. Dennoch gibt es Potenziale. Kurze Strecken unter fünf Kilometern werden zu 40 Prozent mit dem Auto zurückgelegt. Hier kann der Ausbau von sicheren und attraktiven Fahrradwegen viel bewirken. Und: Je dichter die Umgebung, desto aktiver sind die Menschen unterwegs, sei es zu Fuss oder mit dem Fahrrad. Durch gezielte Massnahmen und eine kluge Raumplanung können wir den Modalsplit zugunsten nachhaltiger Verkehrsmittel verändern.

Wegen hoher Mietkosten werden sozial schlechter gestellte Menschen aus den Städten in die Agglomeration gedrängt – für sie ist es keine Option, zu Fuss oder mit dem Velo zur Arbeit zu gehen.

Ja. Menschen, die aus den Städten verdrängt werden, haben höhere Transportkosten und sind oft auf das Auto angewiesen. Man spricht hier von «Mobilitätsarmut». Sie suchen günstigere Mieten in der Peripherie, aber die Ersparnis wird durch höhere Transportkosten oft wieder aufgezehrt. Um das zu bekämpfen, müssen wir bezahlbaren Wohnraum schaffen und dafür sorgen, dass Menschen dort wohnen können, wo sie arbeiten.

In Städten wie Paris und Barcelona werden radikale Massnahmen ergriffen, etwa das Verbannen von emissionsstarken Fahrzeugen oder höhere Parkgebühren für SUVs. Würden Sie ähnliche Schritte in den Schweizer Städten unterstützen?

Solche Massnahmen sind in Städten mit ungerechter Raumverteilung durchaus sinnvoll. Auch bei uns besitzt in manchen Quartieren nicht einmal jede zehnte Person ein Auto, dennoch nimmt das Auto viel Platz ein. Man muss allerdings sagen: Das Verkehrsproblem entsteht nicht in der Stadt, sondern in der Agglomeration. In Zürich ist der Anteil des Autoverkehrs bereits relativ niedrig, sogar tiefer wie in Vorbildstädten wie Amsterdam oder Kopenhagen.

Nur macht dort das Velofahren mehr Spass.

Das stimmt. Was Amsterdam oder Kopenhagen mit dem Fahrrad erreicht haben, hat Zürich mit dem öffentlichen Verkehr geschafft. Aber um den Modalsplit weiter zugunsten nachhaltiger Verkehrsmittel zu verschieben, müssen wir auch in der Schweiz, besonders in Städten wie Zürich, das Velofahren attraktiver gestalten.

Zusammengefasst: Welche konkreten Massnahmen könnten kurzfristig umgesetzt werden, um den Autoverkehr zu reduzieren und den Modalsplit in die richtige Richtung zu drücken?

Es gibt keine einfachen, schnellen Lösungen, und auch der Autobahnausbau ist keine kurzfristige Massnahme; die Umsetzung dauert bis 2040. Push-Massnahmen, die den Autoverkehr unattraktiver machen, wie der Abbau von Parkplätzen oder das Belassen von Staus, sind politisch oft unbeliebt, aber effektiv. Gleichzeitig müssen wir attraktive Alternativen bieten, also Pull-Massnahmen. Die schnellste und kostengünstigste Massnahme ist derzeit schlicht, auf den Autobahnausbau zu verzichten. Das verhindert, dass noch mehr Menschen aufs Auto umsteigen und ermöglicht es, alternative Konzepte zu entwickeln.

Fühlt es sich für Sie manchmal wie ein Kampf gegen Windmühlen an, gegen den vermeintlich logischen Autobahnausbau zu argumentieren?

Ja, es ist manchmal schwierig, gegen die eta­blierten Argumente anzukommen. Wir versuchen, einen faktenbasierten Diskurs zu führen. Wenn dann, zum Beispiel vom Astra, Dinge als Fakten verkauft werden, die unseren Erkenntnissen diametral entgegenstehen, wird das schwierig. Jetzt kann ich mir besser vorstellen, wie es sich für einen Klimawissenschaftler anfühlen muss, mit einem Klimaleugner zu diskutieren. Man hat keine gemeinsame Basis, um zu debattieren.

Wie sehen Sie die Zukunft der Mobilität in den nächsten 20 Jahren, wenn der Autobahnausbau nicht stattfindet?

Bis die geplanten Projekte umgesetzt wären, hat sich ohnehin viel verändert. Das Fahrrad wird eine wesentlich grössere Rolle spielen. Derzeit behandeln wir es in der Schweiz noch stiefmütterlich, aber das Potenzial ist enorm. Zudem stehen wir vor einem technologischen Wandel mit autonomen Fahrzeugen, die in 20 Jahren Realität sein könnten und das Mobilitätsverhalten grundlegend ändern. Das betrifft auch den öffentlichen Verkehr. Plötzlich muss man nicht mehr in den Zug steigen, um während der Fahrt zu arbeiten, sondern kann das auch im autonomen Auto tun. Fahrzeuge könnten dichter hintereinanderfahren, was die Kapazität der Strassen erhöht.

Was ist Ihr Appell an die Bevölkerung?

Wir sollten den Autobahnausbau ablehnen, um alternative Lösungen zu diskutieren. Der Ausbau ist eine veraltete Antwort auf moderne Verkehrspro­bleme, ein Konzept aus den 1960er-Jahren. Bevor wir Milliarden investieren, sollten wir alle anderen Optionen prüfen und nachhaltige Mobilitätskonzepte fördern. Wenn es nach gründlicher Prüfung wirklich keine Alternativen gibt, kann man den Ausbau erneut in Betracht ziehen. Aber zuerst sollten wir uns auf zukunftsfähige Massnahmen konzentrieren, die mit unseren Klimazielen vereinbar sind.